Fabian Kessl ist Professor für Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit an der Universität Duisburg-Essen. In 45 Kommunen der Bundesrepublik forschte sein Team zu existenzsichernden Angeboten. Nachdem die Essener Tafel vorübergehend keine Bedürftigen ohne deutschen Pass mehr aufnahm, schlug er eine dreiwöchige Schließung der Tafeln vor. akduell-Redakteur Dennis Pesch traf Kessl zum Interview.
ak[due]ll: Sie haben der Essener Tafel Ende Februar einen offenen Brief geschrieben. Warum? Fabian Kessl: Zum einen haben wir uns mit dem Phänomen der Tafel und anderer existenzsichernder Angebote wissenschaftlich beschäftigt und hatten den Eindruck, dass die Entscheidung der Essener Tafel auf ein grundlegenderes Problem verweist. Das zweite ist aber schon auch, dass die Entscheidung selbst problematisch ist und wir vor dem Hintergrund unserer Forschung auch eine gesellschaftliche Verantwortung sehen, als Wissenschaftler eine Position einzunehmen.
ak[due]ll: Der Eindruck verfestigt sich, dass es um soziale Verwerfungen geht. Kessl: Man muss zwei Dinge unterscheiden: Das Problem, auf das die Essener Tafel reagiert, und die Art und Weise, wie sie reagiert. Das Problem, auf das sie reagiert, ist ein soziales. Das wundert uns in Essen nicht. Es ist die sozial meist gespaltene Stadt, die wir im Ruhrgebiet haben, symbolisiert in der Trennung von Nord und Süd. Die Entscheidung selbst ist aber auch skandalös, denn sie ist diskriminierend. Wenn ich aus ethnischen Gründen eine Gruppe ausgrenze, dann agiere ich rassistisch. Das heißt nicht, dass Herr Sartor (Anm. d. Red.: Der Essener Tafel-Chef) oder jemand anderes ein Rassist ist, sondern dass der Moment, der da entschieden worden ist, strukturell rassistisch ist.
ak[due]ll: Sie forschen zu Angeboten für Bedürftige, die nicht vom Staat sind. Was haben Sie herausgefunden? Kessl: Wir haben existenzsichernde Angebote untersucht, die spendenbasiert sind, zumeist ehrenamtlich organisiert und Bedürftigkeit voraussetzen, also Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern oder Sozialkaufhäuser. In 45 Kommunen von fünf Bundesländern haben wir recherchiert und dabei herausgefunden, dass es dort bereits etwa 847 Angebote gibt. Rechnen wir das hoch, landet man bei fast 6.000 Angeboten alleine in diesen Bundesländern. Was damit klar wird: Wir haben es mit deutlich mehr solcher Angebote zu tun und damit auch mit viel mehr Nutzern, als es die 1,5 Millionen der Tafeln suggerieren, die zumeist genannt werden. Dazu kommt, dass über 90 Prozent der Angebote, die wir befragt haben, mit sozialstaatlichen Leistungsangeboten verkoppelt sind. Die Vorstellung also, dass dieser Bereich - den wir „Mitleidsökonomie" nennen - ein nur zivilgesellschaftlicher Bereich sei, fernab des Sozialstaates, ist so nicht richtig. Wir sprechen deshalb auch vom „Schatten des Sozialstaats", um deutlich zu machen, dass es einen Bereich gibt, der zwar nicht zum eigentlichen sozialstaatlichen Leistungsbereich gehört, aber auch nicht etwas völlig Anderes darstellt. Sozialstaatliche Leistungen sind sozialrechtlich grundiert; die Leistungen der Mitleidsökonomie basieren nur auf der Loyalität der Helfer und Spender. Das drückt sich auch im Alltag aus, wenn der Jobcenter-Mitarbeiter zum Klienten sagt: „Wenn Ihnen ihr Haushaltseinkommen nicht reicht, gehen Sie doch mal zur Tafel." Hier wird so getan, als ob die Tafel ein offizielles Hilfsangebot wäre. Und nicht nur das: Auch die Angebote suggerieren das, weil sie häufig die Bedürftigkeit der Leute überprüfen, vor allem im Bereich der Lebensmittelausgaben.
ak[due]ll: Was verstehen Sie unter Mitleidsökonomie? Kessl: Der Begriff soll mit den beiden Aspekten „Mitleid" und „Ökonomie" auf etwas hinweisen. Fangen wir hinten an: Vom primären Warenkreislauf in unserer kapitalistischen Ökonomie sind bestimmte Menschen ausgeschlossen, weil sie nicht genügend Kohle in der Tasche haben, um am Ende des Monats ausreichend einkaufen gehen zu können. Genau hier setzt nun die Mitleidsökonomie als sekundärer Warenkreislauf an: Dinge, die aus dem primären Warenkreislauf rausfallen - also Waren, die abgelaufen sind oder als Konsumgüter nicht mehr benötigt werden - werden in den sekundären Kreislauf eingespeist. Und die Motivation der Spender ist Mitgefühl mit bedürftigen Menschen. Wenn ich vor Weihnachten zu einer Supermarktkette gehe und mich Plakate ansprechen, die sagen, ich könne doch alles ein zweites Mal kaufen und in die Kiste für die lokale Tafel legen, dann zielt diese Aussage auf mein Mitleid. Es steckt aber noch ein dritter Aspekt darin, denn mit der Mitleidsökonomie wird auch Profit gemacht.
ak[due]ll: Also machen Unternehmen Gewinn mit der Armut anderer Menschen? Kessl: Genau. Es wäre aber vorschnell zu denken, dass da ein berechnender Manager sitzt und überlegt: „Wie erreichen wir die Bereiche, die bisher noch nicht kapitalisiert sind?" Die Filialleiterin der Supermarktkette mag durchaus menschenfreundlich eingestellt sein. Aber dennoch macht sie mit ihrer Spende abgelaufener Waren bei der lokalen Tafel durchaus Profit. Erstens dadurch, dass im Lebensmittelbereich Abfallgebühren zu sparen sind, zweitens gibt es zum Teil Steuererleichterungen für soziales Engagement und drittens gibt es nichts, was im Marketing mehr Erfolg verspricht, als ein positives Image - und was ist positiver als soziales Engagement?
ak[due]ll: In Ihrem Brief haben Sie vorgeschlagen, die Angebote mal drei Wochen dicht zu machen. Warum? Kessl: Das hat mir durchaus Widerspruch eingebracht und ich glaube auch nicht, dass das realistisch ist. Worum es mir geht ist: Armut ist mit den mitleidsökonomischen Angeboten in unseren Städten wieder sichtbarer, ja selbstverständlicher geworden. Doch was nicht sichtbarer geworden ist, ist die dahinter liegende massive soziale Spaltung. Wir haben viele Menschen, die in ihrem Alltag keine Chance mehr haben, sich eine Existenz aufzubauen, die ihnen durch Lohnarbeit eine Teilhabe an der Gesellschaft in einem angemessenen Sinne ermöglicht. Das sollte mit dem Vorschlag sichtbar gemacht werden.
ak[due]ll: Was muss denn Ihrer Ansicht nach getan werden, um die soziale Spaltung zu bekämpfen? Kessl: Wir brauchen Armutsbekämpfung, keine Armutslinderung - nur letzteres kann die Mitleidsökonomie. Wenn Leute Nothilfe in Anspruch nehmen, ist das im Moment hilfreich, aber damit wird ihre Alltagsbewältigung nicht dauerhaft gesichert. In einer Gesellschaft, die sozial so stark gespalten ist, müssen wir umverteilen. Wir müssen darüber reden, wer welches Vermögen hat, wer welche Steuern zahlt, wer welche Zugänge zum Bildungs- und Wohnungssystem hat. Solange wir das nicht tun, wird es die Mitleidsökonomie geben.