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Krankheiten aussitzen: Jetzt aber mal langsam!

Abwarten soll neuerdings die beste Medizin sein. Bekannt ist das eigentlich schon lange. Die Idee musste aber erst aus Amerika re-importiert werden, damit Arzt und Patient hierzulande umdenken.


Als mein Magen gespiegelt wurde, an einem Frühlingstag morgens um acht, war das, abgesehen von einem Detail, sinnlos. Über das Detail zu reden ist fast ein bisschen heikel, aber das wird hier eh kein ganz so geschmeidiger Text, also fangen wir gleich mit dem harten Stoff an: Propofol. Das Narkosemittel wird bei einer Magenspiegelung verabreicht. Sofern man das will, und ich wollte. Propofol beschert einem Sekunden süßen Dämmerns beim Einschlafen und Aufwachen, viel besser als beim natürlichen Schlaf.

Ich hing an diesem Frühlingsmorgen also noch dieser Blumigkeit nach, als der Arzt ins Zimmer trat. Seine Ansprache - auch eine Sache von Sekunden. „Das ist ein ganz normaler Magen", sagte der Mediziner, mehr zu seinem Klemmbrett als zu mir, und weder er noch ich waren überrascht.


In Deutschland werden viel zu viele Mägen gespiegelt. Es ist ganz egal, welchen Gastroenterologen Sie das fragen - wenn Sie ihn in der richtigen Stimmung erwischen, wird er Ihnen das bestätigen. Mein Magen war einer davon. Ich hatte Bauchschmerzen, für die es tausend mögliche Gründe gab und keinen, der diese Untersuchung rechtfertigte.

Dass ich nun trotzdem propofolisiert auf der Pritsche lag und meine Krankenkasse für diesen Spaß 114,30 Euro an den Arzt überwies, ist die Schuld von vielen und keinem. Ich bin schuld, weil ich der Ansicht war, dass man von außen doch gar nicht sehen könne, ob da nicht doch Schlimmstes vor sich geht. Meine Hausärztin ist schuld, die mir schließlich die Überweisung schrieb, vielleicht, um mich zu beruhigen, vielleicht, weil sie selbst sichergehen wollte. Und der Gastroenterologe deswegen, weil er direkt am Telefon ganz ohne Gegenfragen einen Termin für die Spiegelung vereinbarte, als eine Art Zugangsvoraussetzung zu seiner Praxis.


Zu viele Diagnosen kosten nicht nur Geld, sie können auch gefährlich sein. Das gilt manchmal für die Untersuchung selbst und manchmal, wenn danach therapiert und operiert wird. Der Volksmund („Viel hilft nicht viel") weiß das besser als die Medizin, die es aber eigentlich auch weiß. Theoretisch jedenfalls. Denn in der Praxis gibt es seit ein paar Jahren Initiativen, die dazu aufrufen, häufiger mal nichts zu tun. „Choosing Wisely" heißt die in Amerika, Vorbild für das deutsche Pendant „Gemeinsam klug entscheiden".


Dabei ist das weder besonders neu noch besonders amerikanisch. Ein Allgemeinarzt aus Wien hat das Prinzip der medizinischen Gelassenheit schon in den fünfziger Jahren beschrieben und in Deutschland publiziert, angehende Allgemeinmediziner lernen es bis heute. Wie konnte aus den Deutschen trotzdem ein Volk von Hypochondern und Abergläubischen werden, die sich millionenfach ihren Rücken röntgen lassen und Antibiotika nehmen, wenn sie Schnupfen haben? Und vor allem: Wie halten wir diesen Wahnsinn auf - in einem System, das an seinen Grenzen ist und für Überflüssiges eigentlich kein Geld hat?

Erika Baum arbeitet als Allgemeinmedizinerin, inzwischen seit 35 Jahren. Viele Menschen, die mit Rückenschmerzen zu ihr in die Praxis kommen, erwarten, dass ein MRT-Bild von der Wirbelsäule gemacht wird, mindestens mal soll sie geröntgt werden. Der Dialog zwischen Baum und ihren Patienten geht dann immer in etwa so: „Möchten Sie sich denn operieren lassen, wenn wir was finden?" - „Nö, operieren lassen würde ich mich nicht." - „Na, dann brauchen wir das Bild auch nicht, vom Bild wird's nicht besser."


Baum lacht, wenn sie das am Telefon erzählt. Sie weiß, dass es schwer ist, nicht zu operieren, wenn es erst einmal ein MRT- und Röntgenbild gibt, auf dem die Wirbelsäule irgendwie schlecht aussieht. Und sie sieht mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit schlecht aus. Das haben mehrere Studien gezeigt, in denen MRT-Bilder von den Rücken beschwerdefreier Patienten gemacht worden sind. Auf bis zu fünfzig Prozent davon sind „Veränderungen an der Wirbelsäule" zu erkennen. Die Hälfte der Leute haben also was an den Bandscheiben - ohne dass ihnen das je Probleme gemacht hätte.


Erika Baum ist auch Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und hat lange angehende Mediziner an der Universität unterrichtet. Ihre wichtigste Botschaft war stets: Nicht jede Diagnostik ist gut. Überlegen Sie, was das Ihrem Patienten bringen soll. Der hat nämlich zum Beispiel nichts davon, wenn er weiß, von welchem Virus genau sein Schnupfen herrührt - bis der Befund da ist, ist der Schnupfen nicht nur längst vorbei, sondern selbst bei einem Bakterium als Grund für das Leiden würde ein Antibiotikum in den meisten Fällen nicht schneller helfen, als sich der Körper selbst helfen kann. „Von den Spezialisten", sagt Baum, „wurden wir für unser Plädoyer, diagnostische Maßnahmen nicht jedes Mal auszureizen, lange belächelt."


Dass sich da gerade etwas ändert, beobachtet auch die Hausärztin - in allen Fachgesellschaften ebbt die Diagnose-Euphorie langsam ab. Bei den Rückenschmerzen sollen Ärzte ihren Leitlinien zufolge länger auf ein bildgebendes Verfahren verzichten. Bei leichten Depressionen lautet die Empfehlung, nicht sofort mit Medikamenten zu beginnen. Und sogar die Fachgesellschaft der Intensivmediziner hat eine Liste veröffentlicht, auf der Maßnahmen stehen, die wenn möglich nicht ergriffen werden sollten - das Ziel: weniger Bluttransfusionen, weniger tief sedierte Patienten, kürzere Antibiotika-Therapien.

Grund für diesen Abwarten-Schub ist „Choosing Wisely", die Initiative aus Amerika. Seit 2011 soll sie dort als Mittel gegen eine unbezahlbare Hochleistungsmedizin helfen. Jede klinische Fachdisziplin erstellte dafür eine Top-5-Liste mit den überflüssigsten Behandlungen und Diagnosen.


„Abwarten hat keinen guten Ruf - Leute, die was anpacken, die werden bewundert"

Dem folgten einige britische Fachgesellschaften, die Schweizer starteten die Initiative „smarter medicine", und Deutschland bekam das zaghaftere „Gemeinsam klug entscheiden". Dessen Botschaft: Ärzte sollen Gewohntes hinterfragen - was, darauf legen die Initiatoren Wert, nicht nur bedeutet, ein Zuviel an Diagnosen und Behandlungen zu identifizieren, sondern auch das herauszufinden, was bislang missachtet wurde und ruhig mal häufiger gemacht werden könnte.


Jan Schweitzer hat Zweifel daran, ob das Abwarten deshalb jetzt schon in den deutschen Arztpraxen angekommen ist. Schweitzer ist Medizinjournalist und hat zusammen mit seiner Frau Ragnhild vor wenigen Tagen das Buch „Warum Abwarten die beste Medizin ist" veröffentlicht - ein Plädoyer für mehr Gelassenheit in den Praxen und Kliniken, wie die beiden sagen.


Schweitzer hält diejenigen unter den Ärzten, die tatsächlich den Mut haben, auch mal nichts zu tun, noch für Einzelkämpfer, auch wenn es mehr werden. „Abwarten hat keinen guten Ruf - Leute, die was anpacken, die werden bewundert", sagt der Autor, der selbst Medizin studiert und als Arzt in Kliniken gearbeitet hat. „Als junger Arzt hat man im gesamten Studium gelernt, etwas zu tun - und so gut wie nie, etwas nicht zu tun."


Einer dieser Einzelkämpfer unter den Medizinern ist Thomas Kühlein. Er leitet das Allgemeinmedizinische Institut an der Uniklinik in Erlangen und hat vor einigen Jahren einen vielbeachteten Beitrag im „Deutschen Ärzteblatt" veröffentlicht, Titel: „Von der Kunst des Weglassens". Kühlein liefert darin zwei Erklärungen für das Phänomen, dass Menschen zunehmend eine Krankheit diagnostiziert bekommen, die sie, sehr formal gesehen, zwar haben - unter der sie aber gar nicht leiden.

Erste Erklärung: „Durch die immer sensibleren diagnostischen Möglichkeiten lassen sich feinste Abweichungen von der Norm erkennen", schreibt Kühlein. Das führe zu mehr Diagnosen von Krankheiten, die dem Patienten bis zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung nichts ausgemacht haben und die es aller Voraussicht nach auch so bald nicht tun werden. Dann sei, so Kühlein, ganz und gar nicht sicher, ob die Therapie etwas nutzt - und gleichzeitig bestehe das Risiko, dass sie sogar schadet.


Zweiter Grund für den Diagnose- und Therapieboom in den vergangenen hundert Jahren: Es gibt einfach viel mehr Krankheiten, jedenfalls auf dem Papier. Seitdem Ärzte ihre Ideen davon, was eine Krankheit ist, in einem international gültigen Klassifikationssystem festhalten, aktuell ICD-10 genannt, gibt es stetig mehr davon. „Bislang war noch jede neue Version der ICD umfangreicher als die Vorgängerversion", so Kühlein.


Kühleins Bericht entstand 2013, in dem Jahr, in dem die deutschen Ärzte gerade darüber diskutierten, was sie sich von der „Choosing Wisely"-Kampagne aus Amerika abschauen könnten. Für Frank Mader, Arzt und eine Instanz in der Lehre der Allgemeinmedizin, ist das schizophren: „Wir haben die Bewegung aus Amerika re-importiert, obwohl die Grundlagen dafür in Europa geschaffen worden sind", sagt er.


Tatsächlich ist die Idee in den fünfziger Jahren im deutschen Sprachraum entwickelt worden, und zwar von einem Mann, der als einer der Ersten die Allgemeinmedizin als wissenschaftlichen Gegenstand betrachtet hat: Robert Braun. Seine Gedanken zählen bis heute zu den Grundlagen der Allgemeinmedizin, mit denen sich angehende Ärzte beschäftigen.


Braun plädierte dafür, in der Allgemeinmedizin Diagnosen so lange wie möglich offenzuhalten - nicht nur, um frühen Aktionismus zu vermeiden, sondern auch, um bei unspezifischen Symptomen nicht vorschnell ernstere Krankheiten auszuschließen. Für Braun stand am Ende einer ersten Untersuchung so etwas wie ein Beratungsergebnis - und die Entscheidung, gemeinsam mit dem Patienten zu schauen, wohin sich sein Leid entwickelt.


Abwarten bedeutet in diesem Sinne also nicht, gar nichts zu tun - sondern sich mit dem Aufschub einer Entscheidung alle Optionen offenzuhalten. Ein „abwartendes Beobachten" oder im Englischen „Watchful Waiting" wird seit Jahren auch bei einzelnen sogar schweren Krankheiten angewandt. Bei langsam wachsenden Tumoren in der Prostata und der Niere zum Beispiel. Statt zu operieren, sollen Ärzten ihren Leitlinien zufolge lieber nur den Verlauf überwachen.


Beim aktuellen Abwarten-Trend geht es aber vor allem um alltäglichere Sachen. Nämlich darum, nicht jedem Husten bis zum Ausschluss von Lungenkrebs hinterherzudiagnostizieren, sondern tatsächlich nur dem, bei dem es ernste Anzeichen, sogenannten „red flags", gibt. Allgemeinmediziner Kühlein nennt dies das „Aushalten diagnostischer Unsicherheiten", was er als eine der schwersten Aufgaben für Ärzte bezeichnet. Und es ist etwas, was eigentlich nur dann gelingen kann, wenn ein paar Unsinnigkeiten im Gesundheitssystem abgeschafft werden.


Dazu gehört die EBM-Ziffer 04230. EBM steht für einheitlicher Bewertungsmaßstab, und es ist das Instrument, mit dessen Hilfe die Kassenärztliche Bundesvereinigung die Leistungen von Medizinern bezahlt. Hinter Ziffer 04230 versteckt sich das „problemorientierte ärztliche Gespräch", genau das also, was nötig ist, um Patienten aufzuklären darüber, warum der Rücken jetzt vielleicht nicht dringend geröntgt und der Magen nicht gespiegelt werden muss.


Zehn Minuten darf so ein Gespräch maximal dauern, und 9,39 Euro bekommt ein Arzt dafür. Eine Magenspiegelung, für die Ärzte zwischen 70 und 190 Euro bekommen, geht nicht selten schneller.


Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass Hausärzte nach einer Studie des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie durchschnittlich 7,8 Minuten Zeit haben für ein Gespräch. Und dafür, dass Ärzte ihre Patienten der Universität Essen zufolge etwa nach 18 Sekunden das erste Mal unterbrechen.


Und der Patient? Während Ärzte und Fachgesellschaften über „Choosing Wisely" diskutieren und ihre Leitlinien anpassen, sind manche ihrer Patienten auf einem ganz anderen Gleis unterwegs. Zum Beispiel auf dem, das zu Gen-Schnelltests führt. Forscher können heute unkompliziert das Erbgut eines Menschen analysieren und Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen errechnen. Studien haben zwar ergeben, dass zum Beispiel diejenigen rein gar nichts an ihrem Leben ändern, die nach solchen Tests erfahren haben, ein erhöhtes genetisches Risiko für Diabetes zu haben. Nachgefragt werden solche Tests trotzdem.


Und auch wenn man eine Nummer kleiner anfängt: Wer geht schon gerne zum Arzt, um dann ohne ein Rezept, „nur" mit netten Worten wieder herauszugehen? „Viele Leute erwarten, dass etwas getan wird. Und der Arzt möchte nicht, dass der Patient das Gefühl hat, schlecht behandelt worden zu sein", sagt Buchautorin Ragnhild Schweitzer dazu, die Arzt und Patienten als eingespieltes Team bezeichnet. Klar ist: Wer Beschwerden hat, sollte zum Arzt gehen - aber gerade bei kleineren Wehwehchen lohnt es sich, den Arzt zu fragen, was eigentlich passiert, wenn nichts getan wird.

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