Im Kalten Krieg gab es zwei deutsche Staaten - aber ein Kartenspiel, das Ost und West verband: Skat. Vor 25 Jahren machte sich Hans Jäschke mit vier Skatbrüdern im Wartburg auf über die Grenze, um an einem historischen Wettkampf teilzunehmen. Von David Weyand
Es ist an einem Sonntag Anfang Dezember 1989, als Hans Jäschkes seit so vielen Jahren gehegter Wunsch endlich wahr werden soll: Vor seinem Haus im thüringischen Altenburg wartet um sechs Uhr morgens ein weißer Wartburg auf ihn, darin sitzen seine drei Freunde vom Skatklub "Grand". Gemeinsam wollen sie zusammenführen, was zusammengehört: Skatspieler aus Ost und West.
Mit vollem Tank, Proviant und ihren DDR-Personalausweisen fahren sie an die innerdeutsche Grenze. Die Stimmung ist gut, ihre Erwartungen hoch, und dennoch kommen ihnen Zweifel: Schaffen wir es über die Grenze oder schicken sie uns zurück? Erst wenige Wochen zuvor ist die Mauer gefallen, noch erscheint die Möglichkeit zur Ausreise seltsam irreal. Und noch eine Frage plagt die Reisenden: Dürfen sie überhaupt beim Turnier in Bergen-Enkheim mitspielen? Immerhin: "Den Einsatz, 15 Mark Westgeld, hatten wir uns besorgt, daran konnte es jedenfalls nicht scheitern", erinnert sich Hans Jäschke 25 Jahre später.
Der mittlerweile 77-Jährige hat noch immer ein Spielzimmer in seiner Wohnung. An den Wänden hängen Urkunden und Ehrenteller, in Regalen sammeln sich Pokale und Aktenordner voller Spielkarten und Zeitungsausschnitte. Alles dreht sich um das Spiel seines Lebens - Skat. Das Kartenspiel ist nicht nur mit ihm, sondern auch mit der Stadt Altenburg eng verwoben: Um 1813 wurde es dort erfunden, 1885 fand der erste Skatkongress statt, 1899 wurde der Deutsche Skatverband in der thüringischen Stadt gegründet, knapp 30 Jahre später das Skatgericht, das oberste Entscheidungsgremium über die Regeln beim Skatspiel. Erst mit der Teilung Deutschlands verlegten der Skatverband und das Skatgericht ihren Sitz nach Bielefeld. Von den DDR-Oberen wurde kein eigener Verband geduldet, stattdessen gab es sogenannte "Skataktive".
Hans Jäschke, ehemaliger Verkaufsleiter für Backwaren und Spielkarten, ist kein gewöhnlicher Skatspieler. Als Mitglied des Altenburger Skataktivs organisierte er in ostdeutschen Städten Turniere für bis zu 4000 Spieler. "Wir spielten in allen Kneipen und mussten noch Gartenlauben hinzunehmen", erinnert er sich an eine Veranstaltung in seiner Heimatstadt. Außerdem ist er Gründungsmitglied und später auch Präsident des Altenburger Skatgerichts. Das wurde 1963 als Pendant zum Bielefelder Skatgericht gegründet, weil sich noch immer Skatspieler aus aller Welt mit Regelfragen an die kleine Stadt in der DDR wandten. "Uns schrieben auch Westdeutsche, die die Entscheidungen des Skatgerichts in Bielefeld mit unseren vergleichen wollten", sagt Jäschke, der auch persönlich Post von drüben bekam.
"Ein Gegenbesuch ist vorerst nicht zu erwarten"
Aus einer Klarsichtfolie, Aktenordner 1989/90, zieht er einen maschinengeschriebenen Brief. Am 29. März 1989 schrieb der Vorsitzende des 1. Skat-Clubs Bergen-Enkheim an den "geehrten Skatfreund Jäschke", dass sein Verein eine "freundschaftliche Partnerschaft" mit einem ostdeutschen Klub aufnehmen wolle. In einem Fernsehbeitrag über Altenburg habe man von Jäschke erfahren. Nun würde man sich freuen, wenn er ihnen helfen könne, an einem Skat-Turnier in Altenburg teilzunehmen. "Es versteht sich von selbst, dass auch Sie bzw. Ihre Skatfreunde als unsere Gäste jederzeit willkommen sind." Der Brief endet mit: "Gut Blatt".
Hans Jäschke antwortet damals auf den Brief, dass für einen "Klubvergleich" einiges organisiert werden müsse. Er empfiehlt, die Fahrt im Reisebüro zu buchen und dabei auch ein Vergleichsturnier mit einem Altenburger Skatverein anzumelden. "Ein Gegenbesuch ist vorerst sicherlich nicht zu erwarten", schließt er. Wie auch, der Eiserne Vorhang ist damals ja noch einigermaßen stabil. Und gerade erst war ein ähnlicher Versuch gescheitert: Die Hamburger Bavaria-St.-Pauli-Brauerei hatte das Altenburger Skatgericht zu einem Turnier auf Norderney eingeladen. Die SED-Kreisleitung erlaubte die Reise nicht - angeblich, weil dort die Nationalhymne der Bundesrepublik gespielt werden sollte.
Ein halbes Jahr später ist die Mauer weg, der Besuch des Klubs aus Bergen-Enkheim ist damit hinfällig. Doch dann entdeckt Jäschke im "Skatfreund", dem Mitteilungsblatt des Westverbandes, eine Anzeige: Der 1. Skat-Club Bergen-Enkheim lädt für den 3. Dezember zu den offenen Stadtteilmeisterschaften Frankfurt. Sofort beschließt er teilzunehmen. Er sucht in seinem Klub Mitstreiter, wenige Tage später steht der Wartburg mit den vier Altenburgern in der Schlange vor dem Grenzübergang Wildeck-Obersuhl.
Umarmung der wiedervereinigten Skatbrüder
Nach einer Stunde sind sie drüben. Dass er nach Jahrzehnten erstmals frei über die innerdeutsche Grenze fahren konnte, bewegt ihn nicht sonderlich. Seine Gedanken sind nur auf ein Ziel gerichtet: das erste deutsch-deutsche Skatturnier. "Wir wussten so ungefähr, wo Bergen-Enkheim liegt, und sind einfach in die Richtung gefahren. Dort haben wir uns dann durchgefragt", sagt er.
Doch der Parkplatz vor dem Volkshaus in Bergen-Enkheim ist leer. Der Saal auch. "Es wusste ja keiner, dass wir kommen. Wir sind auf gut Glück gefahren", sagt Jäschke. Sie entdecken einen älteren Herrn, der Zettel sortiert. "Guten Tag, wir wollen beim Skatturnier mitspielen, findet das statt?", fragt Jäschke. "Ja, warum denn nicht?", antwortet der Mann. "Dann möchte ich mich vorstellen, ich bin Hans Jäschke, Skatgericht Altenburg." Stille. "Es verschlug ihm die Sprache", erinnert sich Jäschke. "Dann sagte er 'Herzlich willkommen, Skatfreund Jäschke' und umarmte mich. Das werde ich nie vergessen", erinnert sich der Altenburger. Und auch der Vorsitzende des Skat-Clubs Bergen-Enkheim sagte später der Lokalzeitung: "Ich hatte Tränen in den Augen, und obwohl ich ihm noch nie persönlich begegnet war, erkannte ich ihn von Fotos aus Skatmagazinen."
Allmählich füllt sich der Saal, und auch Jäschke begegnet einem bekannten Gesicht: einem Skatfreund aus Hanau, der ihn vor der Wende öfters in Altenburg besucht hatte. "Der war vielleicht verdutzt, als er mich dort sah." Der Freund drückt ihm 50 D-Mark in die Hand - "mein persönliches Begrüßungsgeld". Dann muss Jäschke spontan auf die Bühne, um eine kurze Rede zu halten. Als Gastgeschenk überreicht er ein Wandbild des Altenburger Skatbrunnens und eine Flasche "Skatrichter", einen Kräuterbitter mit 38 Prozent. "Mir flossen dann auch die Tränen, so bewegend war der Augenblick", sagt Jäschke. Den ganzen Tag über sind die Gäste aus dem Osten in euphorischer Stimmung.
Ein Volk - zwei Blätter
Die vier Altenburger dürfen ihre 15 D-Mark Startgeld in Ostmark zahlen. Dann werden sie mit 200 anderen an die Tische verteilt und beginnen zu spielen. Die Regeln in Ost und West sind weitgehend dieselben, weil das Deutsche Skatgericht auch während der Teilung seine Entscheidungen vorab mit den Altenburger Kollegen abgestimmt hatte. Allerdings wird in Altenburg mit "deutschem Blatt" gespielt. In Bergen-Enkheim hingegen kommt das "französische Blatt" auf den Tisch. Jäschke hatte vorgesorgt und nur Kollegen mitgenommen, die beide Blätter beherrschen. "Es hätte auch niemand Rücksicht genommen, am Tisch bist du Skatspieler wie alle anderen auch." Dennoch gibt er zu: "Ich hatte mehr Lampenfieber als sonst."
Nach fünf Stunden sind an jedem Tisch zwei Serien zu je 48 Partien gespielt, das Turnier ist beendet. Hans Jäschke wird mit 2945 Punkten Neunter und gewinnt ein Kofferradio - seinen ersten Preis im Westen. Viele weitere aus etlichen Wettkämpfen werden noch folgen. Aber für sie wird Jäschke keine Grenze mehr überqueren müssen. Ein knappes Jahr nach dem ersten deutsch-deutschen Skatturnier gibt es nur noch einen deutschen Staat.
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