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Andere Welt

Sie bleiben durchschnittlich drei Jahre und lernen die Schweiz kaum kennen. Die Kinder von Expats, globalen Wanderarbeitern im Anzug, bleiben gern unter sich. Besuch in ihrem Refugium, der Privatschule.

von David Torcasso (Text) und Roland Iselin (Bilder)

«Ich bin in Chicago geboren, habe in den USA, Spanien, Nigeria, Guatemala, Eritrea, Kenia und in der Schweiz gelebt, besitze drei Pässe und spreche vier Sprachen fliessend», sagt Cédric Uribe.
Der, der das sagt, ist kein Manager mit internationalen Arbeitgebern. Der Weitgereiste ist ein 17-Jähriger, der lässig auf einem Holzstuhl in einem Klassenzimmer in Adliswil sitzt. Cédric Uribe ist einer der 1500 Schüler der grössten internationalen Schule im Kanton Zürich, der ZIS, mit Standorten in Wädenswil, Kilchberg, Adliswil und Baden. Sein Vater stammt aus Kolumbien, seine Mutter ist Schweizerin. Seit vier Jahren ist er in der Schweiz und studiert an der privaten Zurich International School.
Die Nachfrage nach internationalen Schulplätzen in der Schweiz hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Seit der Jahrtausendwende haben sich die Schülerzahlen fast verdoppelt. Global tätige Unternehmen buhlen um die wenigen Ausbildungsplätze, die Wartelisten sind lang. Wenn ein Expat (Abkürzung für Expatriat) weiss, dass seine Kinder eine gute Schule besuchen können, kommt er lieber in die Schweiz. Im Schnitt sind es drei Jahre, wie Statistiken zeigen. Eine Tafel mit Gönnern unten im Foyer liest sich wie das Whos who der Wirtschaft: UBS, Swiss Re oder auch Dow Chemical.
Das Unternehmen zahlt die Schulkosten
Cédric trägt kurze Hosen, Skaterschuhe und ein Poloshirt - ein junger Mann mit leichtem Bartwuchs. Einzig die streng gekämmten Haare und die teure Stahluhr am Handgelenk wirken erwachsen, seine Aussagen ebenso. «Ich habe letztes Jahr an einem internationalen Kongress über den Welthunger in Luxemburg teilgenommen. Zusammen mit anderen Schülern erarbeiteten wir drei Tage lang Lösungen für ein gerechtere Verteilung.»
Cédric ist überzeugt, dass er an einer Private School eine bessere Ausbildung erhält als an einer staatlichen Schule - die er aus seiner Zeit in Spanien kennt. «Neben einem hohen Niveau in Mathe oder Geschichte lernen wir hier Eigendisziplin, wissen über die Ursprünge der Schuldenkrise der USA Bescheid und können Praktika bei globalen Firmen wie Google oder IBM absolvieren. Welche öffentliche Schule bietet das schon an?», fragt der 17-Jährige. Aber auch keine öffentliche Schule kostet rund 33 000 Franken im Jahr.
Die meisten Schulgelder an der ZIS werden nicht von den Eltern, sondern von den multinationalen Unternehmen überwiesen. «Viele Firmen bezahlen Expats die Ausbildung ihrer Kinder. Das ist ein Teil des Deals, wenn sie in die Schweiz übersiedeln», erklärt Urte Sabelus, Sprecherin der Zurich International School. Deshalb sei es ein Missverständnis, betont sie, dass sich hier nur «rich kids» die Türklinke in die Hand geben. Klar gehörten Expats der oberen Mittelschicht an, sagt Sabelus. «Aber es gibt auch viele Familien, die das Schulgeld für eines oder mehrere Kinder kaum aufbringen könnten.» Trotzdem, der eine oder andere Porsche Cayenne steht beim ZIS-Ableger in Kilchberg auf dem Parkplatz. Dort, wo die Kleinen in die Primarschule gehen. In Adliswil jedoch, im Oberstufen-Schulhaus der Fasterwachsenen, sind wenige Eltern zu sehen. Die Jugendlichen fahren mit dem Bus an. Sie finden es uncool, in Mamas Auto aufzukreuzen. An diesem Dienstagnachmittag strömen sie zu Hunderten ins viereckige, architektonisch imposante Gebäude im neuen Wohnquartier Dietlimoos bei Adliswil. Vor dem Eingang stehen zwei Reisecars, es ist der Transfer vom Bahnhof. Die über 50 Nationalitäten, die sich hier auf engstem Raum versammeln und im Foyer durch Dutzende Länderflaggen symbolisiert werden, sind auf den ersten Blick kaum erkennbar: Buben und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren in Leggings, Ballerinas, kurzen Hosen oder Turnschuhen. Einige wenige haben eine dunklere Hautfarbe oder pechschwarze Haare. Die meisten entsprechen jedoch dem angelsächsischen Durchschnittstyp.
«Can you give me the Lumpe»
Von Adliswil aus gesehen ziemlich genau auf der gegenüberliegenden Seeseite befindet sich die zweite grosse Ausbildungsstätte mit internationaler Ausrichtung: die Inter-Community School Zurich (ICS) in Zumikon. Olivia Kurz lernt hier dank der amerikanischen Grossmutter seit der zweiten Oberstufe. Ihre Eltern stammen aus Amerika und Kanada, sind jedoch keine Expats. «Ich träume abwechslungsweise auf Englisch und Schweizerdeutsch.» Manchmal sagt sie ihrer Mutter beim Abwasch: «Can you give me the Lumpe.»
Laut Olivia ist die Ausbildung streng und nicht mit der Zürcher Sek vergleichbar. An der ICS werden ihr mehr selbstständige Arbeiten auferlegt, der Unterricht ist in Blöcke unterteilt. Jeder Schüler hat einen individuellen Stundenplan. «Du belegst die Fächer, in denen du stark bist und die dich interessieren, und lässt andere weg. Das macht viel mehr Sinn», ist die 18-Jährige überzeugt. Zudem hätten die Lehrer mehr Zeit für sie. Und man lernt etwas fürs Leben: «Missverständnisse über Religionen und Nationen werden aus dem Weg geräumt, wenn du mit Kids aus Nepal oder dem Sudan in der gleichen Klasse sitzt», sagt Kurz. Das Verständnis, dass die Welt aus Unterschieden besteht, aber doch zusammengehört, ist an diesen Schulen allgegenwärtig. «Wir müssen diese Un- terschiede kennen lernen, das ist sehr wichtig in einer globalisierten Welt», sagt Jonathan Griggs, 12th Grade, was bedeutet, dass er im letzten Schuljahr ist. Wie sein Klassenkamerad Cédric geht der junge Engländer in Adliswil zur Schule. Wir treffen den 17-Jährigen im grünen Gang der Zurich International School. Vor einigen Minuten sass er noch im Geografieunterricht von Kate Dalton und tippte konzentriert in seinen Laptop.
Der Schulunterricht an der ZIS unterscheidet sich kaum von einer Vorlesung an einer Hochschule. Jeder Schüler arbeitet mit seinem persönlichem Laptop. Und statt einem Hellraumprojektor oder gar einer herkömmlichen Wandtafel steht dort ein Smartboard. Auf dieses kann alles von den Laptops im Klassenzimmer projiziert werden - nicht nur von dem des Lehrers. Der gesamte Unterrichtsstoff, alle Hausaufgaben oder Vorbereitungen auf Tests können über Zoodle, das schuleigene Portal, zu Hause abgerufen werden.
Die technische Ausstattung der Schule ist «state of the art». Sie tut alles, um die Heranwachsenden auf die digitalisierte Welt vorzubereiten. Nur eines fördert sie kaum: den Austausch mit Schweizer Jugendlichen. Jonathan sagt: «Die Sprache setzt enorme Grenzen.» So leben die meisten Schüler der International School in einer Blase - «Bubble», wie er sagt. Seine Freunde kennt er aus der Schule, geht zusammen mit ihnen weg, und die Eltern sind untereinander befreundet.
Olivia ärgert sich über diese Parallelwelt: «Da ich in Andelfingen aufgewachsen bin, habe ich auch Freunde ausserhalb der Schule», erzählt sie. «Meine Mitschüler verstehen das nicht und akzeptieren sie kaum.» Viele würden kein Deutsch sprechen und deshalb nie neue Leute kennen lernen. «Sie hocken die ganze Zeit aufeinander und wollen sich nicht integrieren», beklagt sich Olivia. Beziehungsdramen und wechselnde Cliquen sind in der Schule deshalb an der Tagesordnung. Im Tram quatschen und kreischen sie mit amerikanischer Überdrehtheit. Olivia Kurz, die sich davon distanzieren will, erzählt: «Die reicheren Kids sind mit den Reichen zusammen, die Tussis mit den Sportlern, die Engländerin mit dem Englän- der - wie in einem amerikanischen Highschool-Film.»
24-Stunden-Schule
Die Schüler sind ständig mit der Schule verbunden: Cédric Uribe war mit seinem Fussballklub schon in London oder Paris, Jonathan war letztes Jahr an einer internationalen Konferenz in Paris und Teilnehmer einer politisch geprägten Tour durch die Klassenzimmer von Washington. «Das ist schon etwas anderes, als wenn du mit der Nachbarschule die Strasse weiter unten eine Gemeinschaftsarbeit machst», sagt Jonathan und setzt dabei ein entschuldigendes Grinsen auf. Die ZIS bietet fast unbegrenzt Tätigkeiten in Sport, Kultur, Kunst oder sozialem Engagement ausserhalb des Unterrichts an. «Man kann sich 24 Stunden beschäftigen», sagt Cédric. Er würde seine Ausbildung verschwenden, wenn er diese Angebote nicht nutzen würde, meint er.
Der tag, an dem die Familie weiterzieht
In Adliswil ist es mittlerweile Nachmittag geworden. Cédric und seine Kameraden drängen aus dem Gebäude. Die Gänge sind jetzt leer. Die Lehrer hatten über Libyen berichtet, in der Pause waren die Aufnahmebedingungen der englischen Unis ein Thema, und beim Mittagessen diskutierte er mit Chinesen, Italienern und Australiern über Griechenlands Finanzkrise. «Manchmal vergesse ich fast, in welchem Land die Schule steht», sagt Cédric, der sich nun auf den Weg nach Hause macht. Er wohnt im beschaulichen Bremgarten.
In der aargauischen Provinz erwartet den Jugendlichen, der perfekt Schweizerdeutsch spricht, ein anderes Universum. In der Nachbarschaft hat er ein paar Freunde, doch er ist sich jederzeit bewusst, dass er sie bald verlassen wird. «Es wird der Tag kommen, wo meine Eltern sagen: Wir ziehen weiter.» Dank Facebook und Skype seien Freundschaften heute leichter zu pflegen. «Aber am Anfang wird es trotzdem hart sein.»
«Alles andere ist doch langweilig!»
Oxford, Cambridge - die Schüler der International Schools haben Grosses vor. Business oder Engineering ist hoch im Kurs. Es würde ihnen nicht im Traum in den Sinn kommen, ein Studium an der Uni Zürich zu absolvieren. Mit einem Wirtschaftsstudium werde er einen Job machen können, der ihn ebenfalls in der Welt herumführt, sagt Cédric. Ob er nicht genug habe vom ständigen Wohnortwechsel? «Wenn du in zwölf Jahren in zwölf verschiedenen Ländern gelebt hast, gewöhnst du dich an diesen Lifestyle - und er wird für dich die einzig logische Möglichkeit sein. Alles andere ist doch total langweilig!»
Olivia hingegen möchte eine Lehre in der Schweiz machen: «Ich will etwas im gestalterischen Bereich.» Olivias Baccalaureate-Abschluss würde ihr Türen an Elite-Unis auf der ganzen Welt öffnen, aber darauf verzichtet sie. «Ich falle aus dem Rahmen. Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern eine grössere Verbundenheit zur Schweiz, weil ich schon immer da war», sagt sie.
Und Jonathan? «Als Expat hast du keinen Platz, den du als eigenes Heim bezeichnen kannst. Die Welt ist dein Zuhause», sagt er nur.
«Manchmal vergesse ich fast, in welchem Land die Schule steht.»
1500 Schüler, 50 Nationen, ein Rugby-Team
Die Zurich International School (ZIS) ist die grösste der neun internationalen Schulen im Wirtschaftsraum Zürich mit 1500 akkredierten Schülern zwischen 2 und 18 Jahren aus 50 Nationen. Über 50 Prozent der Schüler sprechen nicht Englisch als Muttersprache. Die meisten haben zwei Nationalitäten und sprechen mehrere Sprachen fliessend. Sie schliessen mit einem International Baccalaureate (IB) oder dem Advanced Placement (AP) ab. Die ZIS unterhält mehrere Sportteams, darunter auch eine Rugby-Mannschaft. Sie entstand aus einem Zusammenschluss der American International School of Zurich mit der International Primary School of Zurich im Jahr 2001. Die zweitgrösste Schule im Raum Zürich ist die Inter-Community School Zurich (ICS) in Zumikon. In der Nähe gibt es noch die International School of Zug and Luzern sowie die International School Winterthur und die International School of Schaffhausen. In Gockhausen oberhalb von Dübendorf steht das Lycée Français mit 730 Schülern. (dt)