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Über die Singularität des Daseins

WAS GESCHIEHT IN DEM MOMENT, BEVOR DER PINSEL AUF DIE WEISSE LEINWAND TRIFFT? MIT DIESER FRAGE BESCHÄFTIGT SICH DIE KÜNSTLERIN SU-MEI TSE UNTER ANDEREM IN IHREM FILM „PAYS DE NEIGE“


Zunächst ist da nur ein weißes Rauschen zu sehen, eine gleich­mä­ßige, bild­schirm­fül­lende Fläche, von der man sich nicht ganz sicher ist, ob es sich nun um ein Stand­bild oder doch um eine sich beinahe unmerk­lich bewe­gende Masse handelt. Auch auf der Tonspur meint man eine Art Rauschen zu hören – oder ist da doch ein Rascheln, ein ordnungs­ge­ben­der Rhyth­mus? Erst nach gut 18 Sekun­den Lauf­zeit von Su-Mei Tses Video­ar­beit „Pays de Neige“ aus dem Jahre 2015 wird das gezeigte Bild in Rela­tion gesetzt und die Künst­le­rin selbst betritt plötz­lich jene Bild­flä­che, um sie diago­nal zu durch­schrei­ten. 

Hinter sich her zieht sie eine soge­nannte Glie­der­schlepp­matte, die das weiße Rauschen, das nun als Kiesel­stein­bo­den erkenn­bar ist, ebnet. Die Künst­le­rin verlässt das Bild, um es nach eini­gen Augen­bli­cken in entge­gen­ge­setz­ter Rich­tung wieder zu betre­ten – stetig schrei­tet sie es in gleich­mä­ßi­gen Linien ab. Konstant bleibt der Ton: unab­hän­gig davon, ob wir die Künst­le­rin sehen oder sie sich außer­halb des Bildes befin­det, die Geräusch­ku­lisse des Durch­schrei­tens wie Ebnens des Kiesel­stein­meers bleibt so laut wie zuvor.

EIN ABSCHABEN VON UNEBENHEITEN

Knapp acht Minu­ten lang durch­streift Su-Mei Tse in „Pays de Neige“ beharr­lich und gleich­mä­ßig, den Rechen hinter sich herzie­hend, eine Park­an­lage, bevor der Video­loop von vorne beginnt. In einzel­nen Aufnah­men zeigt sich ein Spring­brun­nen, dann wieder erkennt man einen präch­ti­gen histo­ri­schen Bau. Entstan­den ist die Arbeit im Rahmen einer „Artist in Resi­dency“ in der Villa Medici in Rom. Als Tabula rasa im wahrs­ten Sinne des Wortes könnte man beschrei­ben, was Tse hier durch­führt: das Abscha­ben jegli­cher Uneben­hei­ten, um eine unbe­schrie­bene Fläche herzu­stel­len, die von Neuem mit Inhal­ten gefüllt werden kann.

SU-MEI TSE, PAYS DE NEIGE (FILM­STILL), 2015 © SU-MEI TSE
SU-MEI TSE, PAYS DE NEIGE (FILM­STILL), 2015 © SU-MEI TSE
SU-MEI TSE, PAYS DE NEIGE (FILM­STILL), 2015 © SU-MEI TSE

Insze­niert wird dies gleich einem Ritual oder auch einer Medi­ta­tion – die gleich­mä­ßige Beharr­lich­keit, mit der die Künst­le­rin ihrer Tätig­keit nach­geht, erzeugt eine gera­dezu kontem­pla­tive Ruhe beim Betrach­ter, während die Park­an­lage sodann auch Erin­ne­run­gen an die japa­ni­schen Zen-Gärten wach­ruft. Das vermeint­li­che weiße Rauschen des Bildes (die Kiesel­steine) und jenes auf der Ton-Ebene (das Geräusch der anein­an­der reiben­den Steine) nimmt das Moment der Tabula rasa auch auf der forma­len Ebene in sich auf.

DIE INSZENIERUNG GLEICHT EINEM RITUAL, EINER MEDITATION

So enthält das akus­ti­sche Signal, das man in der Physik als weißes Rauschen beschreibt, das komplette hörbare Frequenz­spek­trum auf einmal – eine Welt in komplet­ter Gleich­zei­tig­keit, die nach Herzens­lust geformt und verän­dert werden kann, genau wie eine weißes Blatt oder eine leere Lein­wand, wie sie die Künst­le­rin in ihrer Video­ar­beit an dem histo­risch aufge­la­de­nen Ort der Villa Medici in Rom herzu­stel­len scheint.

SU-MEI TSE, PAYS DE NEIGE (FILM­STILL), 2015 © SU-MEI TSE

„Dieser Moment, bevor der Pinsel das weiße Blatt berührt“, dafür inter­es­siert sich Su-Mei Tse, wie sie der Neuen Zürcher Zeitung unlängst verriet. Dieser Moment zeitigt einen immens indi­vi­du­el­len Augen­blick: Der Moment vor dem Schöp­fungs­akt, in dem das Indi­vi­duum voll­kom­men allein in die Rolle des Welten­schöp­fers versetzt wird und das Nichts mit Inhalt füllt.

Einem größe­ren Publi­kum bekannt wurde die 1973 in Luxem­bourg gebo­rene Su-Mei Tse im Jahr 2003, als sie auf der Bien­nale di Vene­zia für ihren Beitrag im luxem­bur­gi­schen Pavil­lon mit dem golde­nen Löwen ausge­zeich­net wurde. Neben aufwen­di­gen Instal­la­tio­nen wie „Stone Collec­tion“, eine an chine­si­sche Gelehr­ten­steine erin­nernde Arbeit, oder „Das Ich in jeder Kartof­fel“, eine Ansamm­lung von fünf­zehn aus Kera­mik gefer­tig­ten Kartof­feln, die der Singu­la­ri­tät des Daseins in eher unge­wöhn­li­cher Form Ausdruck verleiht, war „Pays de Neige“ in diesem Jahr in der Einzel­aus­stel­lung „Nested“ im Aargauer Kunst­haus zu sehen.

DIESER MOMENT, BEVOR DER PINSEL DAS WEISSE BLATT BERÜHRT

SU-MEI TSE

SU-MEI TSE, DAS ICH IN JEDER KARTOF­FEL , 2006, IMAGE VIA WWW.​TIM​VANL​AERE​GALL​ERY.​COM

Für den zwei­ten Teil des Abends hat sich Su-Mei Tse den 2017 erschie­ne­nen Doku­men­tar­film „Walk with me“ der Filme­ma­cher Marc Fran­cis und Max Pugh ausge­sucht. Insge­samt drei Jahre lang beglei­te­ten die Regis­seure den aus Viet­nam stam­men­den buddhis­ti­schen Mönch Thích Nhất Hạnh, verbrach­ten längere Zeit im 1982 von ihm gegrün­de­ten Praxis­zen­trum „Plum Village“ in der Nähe von Bordeaux und beglei­te­ten ihn auf Reisen. In aller Ruhe betrach­tet die Kamera das Trei­ben in der buddhis­ti­schen Kommune und versucht, dem Lebens­all­tag dort nach­zu­spü­ren – der buddhis­ti­sche Mönch selbst steht dabei weni­ger im Fokus. 

Immer wieder sind Besu­cher aus der ganzen Welt zu sehen, die an den jähr­lich statt­fin­den­den Retre­ats in Plum Village teil­neh­men, dann wieder Aufnah­men von der das Dorf umge­ben­den Natur, über die Schau­spie­ler Bene­dict Cumber­batch mit sono­rer Stimme aus dem Off Passa­gen aus Hạnhs Buch „Der Duft von Palmen­blät­tern. Erin­ne­run­gen an schick­sal­hafte Jahre“ vorliest.

IN „WALK WITH ME“ WIRD DEM DIKTUM DER ACHTSAMKEIT NACHGEGANGEN

Viel­leicht am inter­es­san­tes­ten sind die klei­nen Einbli­cke, die Fran­cis und Pugh dem Zuschauer in das Privat­le­ben der Mönche und Nonnen gewäh­ren: Eine Nonne wird so beim Besuch ihres in die Jahre gekom­me­nen Vaters gezeigt, der vor Freude über das Wieder­se­hen nicht aus dem Weinen heraus­kommt. Ein Mönch bekommt beim Besuch seiner Eltern von diesen sein Tage­buch samt Plan für sein zukünf­ti­ges Leben präsen­tiert: cool sein mit 12, Freun­din mit 16, mit 24 einen auskömm­li­chen Job und mit 26 die Millio­nen-Dollar-Villa. Es sind Momente wie jene, sorg­same, nicht bewer­tende Beob­ach­tun­gen einzel­ner Menschen, in denen die Filme­ma­cher dem Diktum der Acht­sam­keit wohl am nächs­ten kommen.

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