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Geheimsache Afghanistan-Papiere (neues deutschland)

Nur bis August 2015 waren die Afghanistan-Papiere auf den Seiten der WAZ zu erreichen. Seither müssen Spiegelserver genutzt werden, um die Dokumente einsehen zu können.

Am 27. November 2012 veröffentlichte die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" auf Initiative von David Schraven, der damals den Bereich Recherche leitete, 5000 Seiten. Die "WAZ" nennt die Veröffentlichung "Afghanistan-Papiere". Es handelt sich um die wöchentlichen Lagemeldungen der Bundeswehr aus den internationalen Kriegseinsätzen. Ein bisschen reißerisch titelt man "vertraulich", obwohl es sich bei den Dokumenten um Unterlagen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" handelte. Eine Gefährdung von Soldat*innen war auszuschließen, da die Papiere keine Rückschlüsse auf Einsatztaktiken ermöglichen.

Dennoch: Die Afghanistan-Papiere haben eine besondere Qualität. Sie zeigten, wie die Bundeswehr den Verteidigungsausschuss informiert und dass die öffentliche Diskussion rund um den ISAF-Einsatz überwiegend wenig mit dem zu tun hatte, was in Afghanistan wirklich stattfand. Während die Politik noch vom "Friedenseinsatz" sprach, zeichneten die Lageberichte längst das Bild eines Krieges.

Parlamentarier*innen der Fraktionen wissen um den Informationsgehalt der Papiere. "Leider sind die schriftlichen Berichte wenig aussagekräftig", sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Katja Keul. So würden oft einzelne Vorkommnisse ohne Einbindung in einen Gesamtkontext geschildert. Das nötige Lagebild für ihre Arbeit im Verteidigungsausschuss bekomme Keul hauptsächlich durch Reisen in Einsatzgebiete.

Die Bedeutung der Afghanistan-Papiere erschien zunächst gering. Jedoch enthalten sie Zahlen über zivile Opfer, die die Bundeswehr in der öffentlichen Darstellung lieber verschwieg. An anderen Stellen der Papiere übermittelt man teils unvollständige, teils abweichende Informationen, so dass es schon zu den Pressemeldungen der Bundeswehr eine Diskrepanz geben kann. Nur wer vor Ort war oder Menschen aus dem Kriegsgebiet kennt, kann die Verschleierungen im Berichtswesen identifizieren. Sevim Dagdelen, die für die Linksfraktion als stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss sitzt, kritisiert, dass "oft für die Bundesregierung unangenehme Informationen, an denen sich Kritik der Kriegsbeteiligungen der Bundeswehr entzünden könnte, ausgeblendet werden".

Diese Kritik wollte das Verteidigungsministerium offenbar bei den Afghanistan-Papieren vermeiden. Unter der Ägide des damaligen Verteidigungsministers Thomas de Maizière (CDU) fährt man schwere Geschütze auf und verklagt im Juli 2013 die Funke Mediengruppe, den Verlag, der die "WAZ" produziert. Da die Gefährdung von Sicherheitsinteressen angesichts der Inhalte der Papiere nicht zu belegen war, entschloss sich das Ministerium für einen juristischen Winkelzug und sieht durch die Veröffentlichung der Originaldokumente das Urheberrecht verletzt. Das Urheberrecht soll geistiges Eigentum schützen, und dient in erster Linie Künstler*innen, Autor*innen und Verlagen zur Durchsetzung von Ansprüchen. Erforderlich ist auch eine Gestaltungshöhe, die ein Gericht in Nordrhein-Westfalen bei den Afghanistan-Papieren allerdings erkannt haben will. Im August 2015 muss die "WAZ" die Papiere nach einer gerichtlichen Anordnung löschen.

Die strittige Auffassung, ob Berichte einer Bundesbehörde ebenso schützenswert sind wie literarische Werke, gelangte bis zum Europäischen Gerichtshof EuGH. Dort wirkte es zunächst so, als scheitere das Ministerium. Letztlich müsse eine Abwägung im Einzelfall und immer durch nationale Gerichte erfolgen, urteilte dann aber der EuGH.

Das abschließende Urteil, das am Donnerstag, den 30. April 2020 am Bundesgerichtshof verkündet wird, will die Bundeswehr erst nach Sichtung der schriftlichen Urteilsbegründung in den kommenden Wochen kommentieren. Selbst wenn die "WAZ" Recht bekommen sollte, hat die Bundeswehr mit dem Verfahren die Dokumente rund fünf Jahre der öffentlichen Auswertung und Diskussion entzogen und einen Präzedenzfall geschaffen. Einerseits rechtlich, mindestens aber auch in der Frage, wie weit man bereit ist, gegen unliebsame Veröffentlichungen vorzugehen.

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