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Realitätsverlust der anderen Art

Bei einigen Innovationen spürt man sofort, dass sie die Welt verändern könnten. Eine solche ist den Entwicklern von Google Inc. mit ihrer Datenbrille Google Glass von Daniel Lehmann womöglich Unternehmen nutzen Augmented Reality schon lange gelungen. Vom Fortschrittsfanatiker bis zum Star Trek-Fan scheint jeder begeistert von den Chancen, die diese Erfindung bietet. Doch nicht alle wollen den technologischen Avantgardisten des Suchmaschinen-Riesen huldigen. Vor allem Datenschützer geben berechtigte Einwände ab. Analoge und digitale Realität verschwimmen zusehends

Frühestens Anfang nächsten Jahres wird das sehnsüchtig erwartete Produkt des US-Unternehmens in den freien Handel gelangen.2 Bis dahin werden sich Kritiker und Befürworter gleichermaßen mit den Erfahrungsberichten der glücklichen Testnutzer, den insgesamt doch relativ spärlich gesäten Informationen zu genaueren technischen Details und den mit schöner Regelmäßigkeit veröffentlichten Imagefilmen zu Google Glass begnügen müssen. Bis zum Verkaufsstart wird sich der mediale Rummel, der im Web schon längst gigantische Ausmaße angenommen hat, dennoch weiter verstärken. Zumal die Amerikaner durch das geschickte Rühren der Werbetrommel ohnehin schon jetzt die Spannung in Fachkreisen mächtig anheizen.3 Doch wie kam es überhaupt dazu?

Gerade als der Begriff Augmented Reality, zu Deutsch erweiterte Realität, überhaupt einem allmählich wachsenden Publikum oder gar der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, stellte Google im Rahmen der hauseigenen Entwicklerkonferenz I/O den Prototypen eines Gerätes vor, das in der Lage ist, eine WLAN-Verbindung aufzubauen und Informationen über ein HUD (Head-Up-Display) an das menschliche Auge zu vermitteln. Das war vor etwas mehr als einem Jahr. Seither gelangen nicht nur immer mehr Gerüchte über die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Glass in Umlauf, sondern mindestens ebenso viele Diskussionen zwischen IT-Experten und Datenschützern fanden statt. Dabei ist Augmented Reality an sich genau genommen schon fast ein alter Hut. Piloten, insbesondere im Militär, steht die computergestützte Wahrnehmungsoptimierung im Cockpit bereits seit Jahren zur Verfügung. Im Marketing nutzt man dieses Mittel, um beispielsweise über Smartphone-Apps Inhalte interessanter aufzubereiten oder um mit der analogen Umgebung digital interagieren zu können. Das virtuelle Anprobieren von Bekleidung, Schmuck und Brillen erfreut sich beispielsweise momentan wachsender Beliebtheit.

NSA und Prism: Datenschützer sind alarmiert

Vielleicht liegt genau hier der Aspekt, der das ganze Google Project Glass so fantastisch wirken lässt. Augmented Reality beschränkte sich bislang für die meisten von uns auf nette Spielereien, die man mal eben mit seinem modernen Mobiltelefon oder PC mitgemacht hat, ehe man genug davon hatte und der Spuk wieder in der Hosen- oder Handtasche verschwand beziehungsweise man den Bildschirm ausschaltete. Google hat nun diesen Entwicklungsschritt in der technologischen Evolution übersprungen und präsentiert kein Gadget im herkömmlichen Sinne. Vielmehr handelt es sich bei Glass um ein überaus funktionelles Accessoire, das Futurologen bereits als wearable technology bezeichnen. Damit verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen der simplen Nutzung einer technischen Errungenschaft und der Art und Weise, wie wir diese Nutzung in unseren Lebensalltag integrieren - Realitätsverlust der anderen Art.

Neurologen raten von Gebrauch beim Autofahren ab

[Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=Ds_O2NfWE0Q Zugriff: 14.07.13]

Geht es nach Google, ist der eingeschlagene Weg trotzdem eine große Chance, um uns das Leben noch einfacher zu gestalten. Entsprechend aufbereitet sind natürlich die Werbeclips zum Projekt. So findet der Protagonist in einem der ersten Imagefilme zu Glass dank der Informationen auf seinem Display den schnellsten Weg zu Fuß bis zum vereinbarten Treffpunkt mit seinem Freund, kann unterwegs Fotos schießen und sogar Konzertkarten bestellen, ehe er auf dem Dach eines Hochhauses seiner Freundin einen romantischen Moment bereitet. Dass Google Glass Vorteile bringt, ist eigentlich auch unbestritten. Problematisch ist hingegen für viele die Tatsache, dass die Datenbrille in besonderer Weise Personen und Orte fotografieren, filmen und auf andere Weise als Information verarbeiten kann - und das theoretisch unbemerkt. Nicht erst seit den Enthüllungen rund um NSA und Prism horcht man genauer auf, wenn es um leistungsstarke Datenerfassung geht. Die Bedenken werden angesichts des Umgangs mit Daten in der Vergangenheit und des derzeitigen Schweigens seitens Google auch nicht kleiner, sodass mittlerweile der Bundesdatenschutz aktiv wurde.

In diversen Zukunftsszenarien fürchten manche nicht nur den gläsernen Menschen, sondern eine generelle Kluft zwischen Personen, die einer hochgradig digitalisierten Welt offen gegenüberstehen und jenen, die diese nicht wollen oder sich nicht leisten können. Während die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgeht, droht damit bereits eine weitere Form der gesellschaftlichen Teilung. Hinzu kommt, dass Neurologen von der gleichzeitigen Wahrnehmung der realen Umgebung in Kombination mit der „erweiterten Realität" abraten. Gerade bei schnellen Bewegungen ist der Nutzer Studien zufolge nicht in der Lage, sämtliche Informationen zu verarbeiten, was das Tragen von Google Glass beim Autofahren im Grunde ausschließt. Ähnliche Erfahrungen hat man bereits bei Ski-Brillen mit AR-Elementen gemacht. Inwieweit Glass unser Leben beeinflussen kann und letztlich darf, bleibt demnach abzuwarten.

Übrigens: Im Rahmen eines Interviews in der The Gavin Newsom Show gab Google Inc. CTO Sergey Brin im vergangenen Jahr folgenden Kommentar zur Zielsetzung des Project Glass ab: „Frei sein, um die Welt zu erleben, ohne mit einem Telefon rumzuspielen". Dass man dies auch wunderbar ohne Datenbrille tun kann, sollte man sich vielleicht bisweilen wieder ins Gedächtnis rufen.

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