Ich stelle mir vor, wie ich aus dem Flugzeugfenster blicke, unter mir Wolkenkratzer, der Kreml, die pelmenische Welt. Es ist Anfang Februar, ich sitze mit Freund:innnen in einer Bar in Frankfurt, halte mein Handy in der Hand, in meinem Posteingang die Zusage für ein Auslandssemester in Moskau.
"Wir freuen uns, Ihnen folgenden Platz anbieten zu können", steht da. "Bitte bestätigen Sie uns, ob Sie den Platz annehmen", steht da auch.
Ich lese die E-Mail laut vor, sage: "Nur wenn kein Krieg ausbricht." Es ist mehr als eine Bedingung. Es ist eine Vorahnung, eine Befürchtung, eine Angst.
Meine Eltern kamen vor fast 30 Jahren von Kasachstan nach Deutschland. Mein Onkel, meine Cousine und Oma leben noch in . Ich dagegen bin geboren, wo meine Eltern bis heute leben: in einer bayerischen Kleinstadt. Früher haben wir fast nur Deutsch zu Hause gesprochen.
Meine Eltern wollten nicht, dass wir auffallen. Ich konnte mich mit dem Russischsein lange nicht identifizieren. Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, belegte ich in der Oberstufe einen Russischkurs, war sogar Klassenbester. Heute rede ich mit meinen Eltern auch Russisch. Aber es strengt mich an. Weil ich will, aber nicht richtig kann. Es ist das Gefühl, was sich durchzieht.
Deswegen will ich nach Russland reisen. Das Auslandssemester soll mich näher zu meinen postsowjetischen Wurzeln führen. Zumindest zu einem Teil davon.
"Geh unbedingt", sagt mein Vater.
"Geh nicht", sagt meine Mutter.
In den kommenden Wochen und Monaten werde ich nur noch mit meiner Mutter reden.
Als ich einem Freund mit ähnlichen Wurzeln von meinen Plänen erzähle, sagt er: "Gehst du nach Moskau, unterstützt du das Regime." Ich hadere. Mein Verhältnis zu Russland ist ein einziges Scheitern. Auch, weil ich eine zu romantische Vorstellung des Landes hatte. Weil ich noch nie dort war, wo ich glaubte, den Mittelpunkt der postsowjetischen Welt zu finden. In Moskau. Heute glaube ich nicht mehr, dass Moskau diese Stadt ist.
Wenn ich durch meine Instagram-Timeline scrolle und dort seit Kriegsausbruch in Videos Bomben auf die ukrainischen Häuser fallen sehe, frage ich mich, was aus der Ukraine werden soll. Aus Russland. Aus meiner . Denn durch meine Familie, durch die postsowjetische Diaspora und durch mich geht ein Riss. Viele postsowjetische Kinder streiten mit ihren Eltern über den Krieg.
Ein paar Tage später im Februar, zwei Wochen vor Kriegsausbruch, antworte ich auf die Zusage der Uni: "Ich nehme sehr gerne den Platz an der Lomonossow-Universität an! Ich freue mich sehr darauf."
Was ich nicht schreibe: Dass ich bereits Bedenken habe.
Abends sitze ich rauchend am Fenster und stelle mir vor, wie die Reise mich verändern würde. Sie soll meine deutsche und meine postsowjetische Seite zusammenflicken.
Der Bauernhof, von dem meine Vorfahren als Schwarzmeerdeutsche 1936 nach Kasachstan vom sowjetischen Apparat vertrieben wurden, lag in der Nähe von Odessa, in der heutigen . Rund 1.000 Kilometer von Moskau entfernt. Irgendwann wollte ich mich auf die Suche danach machen. Vielleicht wurde er abgerissen. Vielleicht ist er heute zerbombt. Vielleicht werde ich es nie mehr herausfinden. Die Zweifel in mir werden lauter, die russische Propaganda, im Fernsehen, im Internet, auch.
Während der Krieg immer näher rückt, wachsen meine Zweifel, auch die meiner Universität. Ende Februar, zwei Tage vor Kriegsausbruch, erreicht mich wieder eine E-Mail: "Wir könnten aufgrund der aktuellen Entwicklungen natürlich über Alternativen beraten."
Ich blicke zurück. Weihnachten 2019. Meine Familie und ich sitzen an einem großen Tisch, wie immer an Weihnachten. Es gibt viel Fleisch, viel Wodka. Postsowjetische Tradition in einer mittelbayerischen Kleinstadt. Mein Onkel Kolja ist zu Besuch aus Moskau. Ich erkläre etwas holprig, was ich gerade studiere, benutze unterm Tisch mit einer Hand heimlich Google Translate, weil mein Russisch gut, aber nicht gut genug ist. Mein Onkel lädt mich ein. Meine große Schwester war bereits öfter in Moskau, mit unserer Mutter am Schwarzen Meer bei Oma oder mit unserem Vater in Sankt Petersburg. Damals hat mich das nicht interessiert, ich wollte der postsowjetischen Seite keinen Platz einräumen. Ich flog lieber nach Paris, Budapest, Prag. Moskau rennt ja nicht weg, dachte ich damals. Wie dumm, denke ich heute.
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