Das FACT Magazine schrieb darüber, Mixmag identifizierte es als einen Jahres-Trend und auch Bandcamp griff das Thema in seinem Magazin auf: Lo-Fi House war 2016 omnipräsent. Die aktuellen Vertreter der Zunft sind aber auch catchy - wer nennt sich auch sonst DJ Longdick? Oder DJ Boring, und setzt für YouTube-Aufmerksamkeit eine hübsche, junge Winona Ryder aufs Plattenlabel? Musikalische Schlüsselelemente dieser sogenannte „Meme-House"-Leute sind stimmungsvolle Pads, lange Vocal-Samples, schummrige Basslines und flache Hi-Hats. Nur die letzten zwei dieser Elemente sind tatsächlich vom Klang her lo-fi, dennoch reicht es für die Bezeichnung und einen kleinen Hype.
Auf der anderen Seite des Lo-Fi House-Spektrums finden sich die, die eher auf Pads verzichten und dafür jazzige Klavier-Samples und warme Percussion-Samples verwenden und ihre Musik beispielsweise über Banoffee Pies, Apron oder Lehult veröffentlichen. Das ist natürlich beides vereinfacht, aber um generelle Tendenzen zu erkennen, muss man das eben so machen. Und die generelle Tendenz ist folgende: Lo-Fi House hat sich selber überholt. Der Lo-Fi, der im vergangenen Jahr so populär und neu wurde, ist alles andere als neu. Er ist der Wolf im Schafspelz, Deep House im Lo-Fi-Gewand, und entbehrt jeglicher musikalischer Innovation. Doch um das im Heute nachvollziehen zu können, muss man in die Vergangenheit schauen.
Wir schreiben das Jahr 2011. Crosstown Rebels sind bei Resident Advisor zum „ Label Of The Year" gewählt worden, im Jahr davor war der ebendort erschienene „Without You" von Art Department der Track des Jahres. Zusammen mit den ihnen nahestehenden Hot Creations und Visionquest prägen sie einen Sound, der für „unzählige Leute der Soundtrack 2011 war": Glasklar produzierter Tech-House mit viel Gewaber im Bassbereich, den man Deep House nannte und der den „Laptop als Mittel der Wahl" verwendete, wie Gerd Janson im Groove-Jahresrückblick 2011 konstatierte. Diese Strömung nutzte die Möglichkeiten des Digitalen, mit denen das 21. Jahrhundert einhergegangen war und die nun ausgereift waren, vollständig aus. Doch manchen Leuten war die Klangästhetik zu „polished", perfekt und kristallklar, kurzum: zu hi-fi. Eine Gegenbewegung war nicht weit entfernt.
Sie sollte anfänglich vor allem aus Nordamerika kommen: Eines der ersten Teile dieser Bewegung war das 2010 gestartete Label L.I.E.S. aus New York. Bereits die frühen Veröffentlichungen wiesen einen charakteristischen Sound auf, der sich vom Deep-House-Konsens abhob: Rauheit, Distortion, Scheppern und Kratzen, Ausfransen und Verwischen. Kurzum, eine Klangqualität, die an eine kaputte Platte, kaputtes Soundsystem oder beides gleichzeitig denken lässt. Der Gegensatz zum detailtreuen Hi-Fi-Klangbild und somit lo-fi.
Nach und nach breitete sich der Sound aus: Huerco S und Proibito-Grüder Anthony Napleswaren frühe, zentrale Vertreter, Opal Tapes, The Trilogy Tapes oder White Material nur einige der Labels. An letzteren drei Beispielen zeigt sich auch, was diese Nische abgesehen von ihrem kratzbürstigen Sound einte: Eine Vorliebe für physische Tonträger. White Material machten von Anfang an auf limitierte Pressungen, L.I.E.S. setzte anfangs auf Vinyl und Opal Tapes oder The Trilogy Tapes, offensichtlich, Kassetten. 2012 dann erhielt diese Nische durch Ben UFO unfreiwillig den Namen „Outsider House“. Denn mit Einflüssen aus Noise und Ambient waren sie nicht nur wegen des scheppernden Klangs außen vor.
Aus heutiger Perspektive hat sich die Bezeichnung aber nicht wirklich durchgesetzt, wohnt ihr doch eine Bedeutung inne, die sich mit zunehmender Popularität selbst abschafft. Der Outsider bleibt nur Outsider, so lange er sich außerhalb des Status Quo befindet. Aber er wuchs immer mehr in den Status Quo hinein: Um L.I.E.S. etwa entstand ein Hype. 2012, nur ein Jahr nach Crosstown Rebels, wurden diese „Outsider“ von Resident Advisor zum „Label Of The Year“ gekürt, während Crosstown Rebels im selben Jahr gänzlich aus der Liste verschwanden.
Im Herbst 2013 gründete sich das nächste gehypte Lo-Fi-Label, Lobster Theremin. Die erste Katalognummer, die EP Equation, war schnell ausverkauft und ebnete Palms Trax den Weg für seine Karriere. Ähnlich wie L.I.E.S. ist auch Lobster Theremin eine unaufhörlich produzierende Release-Maschine: Allein 2016 veröffentlichte das New Yorker Label 31 Releases auf Main- und Sub-Labels, Lobster Theremin schaffte es auf 21. Aber während L.I.E.S. sich immer noch allerhand Einflüsse bedienen, um Musik zu veröffentlichen, die in Sound und im Geiste außenseiterisch rau ist, haben Lobster Theremin langsam den Weg für den langweiligen Lo-Fi Deep House geebnet, der das vorangegangene Jahr dominierte. Wie aber kam es dazu – und was macht diesen Sound für mehr als nur ein paar Vinyl-Nerds reizvoll?
Letztendlich kann niemand in die Seelen aller Zuhörenden blicken, aber es lassen sich mehrere Gründe finden. Zunächst einmal der offensichtlichste: Wenn Perfektion normal wird, sticht sie nicht mehr heraus und verliert somit ihren Reiz. Das eben war passiert: Digitale Klangperfektion war normal geworden. Wo ließ sich also etwas Neues, Innovatives finden? Der technologische Blick in die Zukunft weist nur noch in weitere weitere Stufen des digitalen Fortschritts, also wagte man einen Blick zurück. Dieser Blick zurück manifestierte sich in der rumpligen Klangästhetik, die einen zurückversetzte in eine Ära, in der die Qualität des Klangs eine Frage von Geld war.
Und siehe da: Die Musik trifft einen Nerv. „Nostalgieausbrüche folgen oft auf Revolutionen“ schrieb die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym und die Revolution des 21. Jahrhunderts ist die Digitalisierung und das Internet. Lo-Fi ist ein Ausdruck dieses Nostalgiegefühls, das sich auch in anderen Lebensbereichen beobachten lässt. Fotografie zum Beispiel: Derweil sich in den Nullerjahren eine Digitalkamera in nahezu jeden Haushalt einschlich, griff Instagram die analoge Retro-Ästhetik wieder auf und machte sie für Smartphone-Schnappschüsse verfügbar. Der Erfolg des Unternehmens zeigt, dass die Menschen keine HD-Aufnahmen der Realität möchten. Sie möchten weichgezeichnete Bilder, die eine diffuse Emotionalität transportieren.
Emotionen sind menschlich. Genau dieses Menschliche stellt Lo-Fi noch auf eine andere Weise heraus: Durch den Fehler. Das Element des Fehlers zeichnet die Klangästhetik in ihrem Kern aus. Eine bis zur Dissonanz verzerrte Vocal, eine flach scheppernde Hi-Hat – das sind eigentlich Fehler. Manch einer mag bei den ersten L.I.E.S.-Releases sogar gedacht haben, die Platte wäre kaputt, so viele „Fehler“ waren in der Produktion enthalten. Fehler sollten eigentlich nicht passieren. Aber Fehler sind auch menschlich. Sie rücken das Handgemachte hinter einem Track wieder in den Vordergrund und hauchen ihm so Leben ein. Authentizität ist das Ergebnis. Auch wenn die Musik oftmals digital produziert wird und diese Authentizität somit eigentlich simuliert ist – es ist eine Qualität, die manche während der Deep-House-Hochzeit vermisst haben mögen.
Aber, und damit kommen wir zu der Paradoxie und der letztendlichen Sackgasse, die Lo-Fi innewohnt: Fehler sind nicht planbar. Mit der zunehmenden Institutionalisierung des Sounds hat sich aus dem anfänglich roughen Gegenentwurf ein Stil nach Schema F entwickelt. Ein bisschen Rauschen hier, etwas Übersteuerung da – es braucht nur die Verwendung der richtigen Elemente und fertig ist der Lo-Fi Track. Es sind keine Fehler im eigentlich Sinne mehr, die den Klang ausmachen, und der Reiz des Authentischen geht verloren. Was einmal innovativ war, ist ein Stil geworden, aus dem das Gegenteil von Innovation zu kommen scheint. Da drängt sich die Frage geradezu auf, ob ein Name wie DJ Boring mit passender Absicht gewählt wurde oder ob diese Produzenten tatsächlich glauben, sie würden etwas Neues oder wenigstens Spannendes produzieren.
Aber vielleicht braucht man das an der Stelle auch gar nicht mehr. Der erste Bruch hat stattgefunden und neue Möglichkeiten eröffnet. Lo-Fi als Innovation hat sich inzwischen zwar überholt, dennoch hat es zu einer neuen Art von Subgenre geführt, so viel es an dem auch zu kritisieren geben mag – von mangelnder personeller Diversität gar nicht erst anzufangen. Kulturpessimismus ist indes wie immer unangebracht: Auch für die, bei denen dieser nicht-neue Lo-Fi House des 2016 Langeweile bis Unbehagen hervorruft, gibt es noch Hoffnung. Labels wie L.I.E.S., The Trilogy Tapes oder 1080p halten weiterhin die Fahne für echte Kratzbürstigkeit hoch. Im Klang, im Geiste und vor allem in Form spannender Musik.