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"Ich habe mich oft ausgegrenzt gefühlt"

Protokolle von Cristina Marina

Auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise sagte die Bundeskanzlerin einen Satz, der seitdem oft zitiert wird: "Wir schaffen das." Wer hat seitdem was geschafft? Fünf Menschen, die 2015 nach Deutschland geflüchtet sind, ziehen eine persönliche Bilanz.

Alireza Husseini (30), Hannover

Ich mache bei einer Werbeagentur eine Ausbildung als Fotograf und bin im dritten Lehrjahr. Um die Sprache zu lernen, musste ich die Kurse komplett selbst bezahlen, weil es für Menschen, die aus Afghanistan kommen, keinen Anspruch auf Vergünstigungen gibt. Dafür habe ich aus den Sozialleistungen Geld gespart. Diese Zeit war hart, aber anders hätte ich keinen Ausbildungsplatz bekommen.

Als ich nach Deutschland kam, war ich bereits fast mein Leben lang Flüchtling. Meine Familie war in den Iran geflohen, als ich zwei Jahre alt war. Vor fünf Jahren sind meine Mutter und ich nach Afghanistan zurückgegangen. Dort wurden wir schikaniert - es hieß, wir sollten wieder gehen. In den Iran durften wir nicht mehr zurückkehren.

In Iran hatte ich bereits drei Fotoausstellungen. Auf meiner Flucht habe ich in Griechenland die Menschen in einem Flüchtlingslager fotografiert. Diese Fotos erschienen 2016 in einem interkulturellen Magazin. Der Kreativ-Verein dahinter heißt "cameo Kollektiv". Seitdem bin ich Mitglied. Eine historische Fotoserie über Hannover habe ich auch auf einem Festival gezeigt.

Mein Leben in Deutschland hat erst mit diesem Verein richtig angefangen. Die Leute haben mir auch bei Bewerbungen geholfen. Vor zwei Jahren ist unsere Arbeit für den Natio­nalen Integrationspreis der Bundeskanzlerin nominiert worden. Wir wurden ins Kanzleramt eingeladen - diese Erfahrung war der absolute Wahnsinn! In Deutschland bin ich als Künstler frei. Mit meinen Fotos kann ich auch Missstände aufdecken, meine Stimme etwa gegen Rassismus erheben. Die Taliban hassen aber Leute wie mich.

Meine Mutter darf hierbleiben, weil sie krank ist: Sie hat Diabetes. Ob auch ich bleiben darf, wird sich nach meiner Ausbildung zeigen. Ein Freund aus dem Iran sagte zu mir, ich hätte es mit Deutschland gut getroffen. Dabei war es nicht unsere Absicht, es möglichst "gut zu treffen". Meine Mutter und ich suchen eine Heimat, in der wir in Frieden leben können.

Mohammad Busan (30), Hannover

Ich bin nach Deutschland gekommen, nachdem ich bei der Explosion einer Autobombe am Auge und am Bein verletzt wurde. Hier wurde ich operiert, seitdem geht es mir besser. Weil ich in den ersten drei Jahren oft im Krankenhaus war, konnte ich nur unregelmäßig Deutschkurse besuchen. Die Sprache habe ich trotzdem gelernt. Ich spreche gut und verstehe fast alles. Nur schreiben fällt mir vergleichsweise schwer.

Ich komme aus Homs in Syrien. Dort habe ich als Fliesenleger gearbeitet. Leider kann ich diesen Beruf mit meiner Verletzung nicht mehr ausüben. Ich gelte zu 70 Prozent als schwerbehindert. Der Arzt meinte, arbeiten könnte damit schwierig werden. Aber ich arbeite gerne. Ich will nicht auf Kosten des Staates leben. Bisher hatte ich Jobs in einem Bio-Supermarkt und zwei Fast-Food-Restaurants. Den letzten habe ich länger als ein Jahr gemacht. Dafür bin ich jeden Tag 45 Kilometer zur Schicht gependelt. Dann wurde ich leider gekündigt, in dem Schreiben steht: "ohne Grund". Dabei hatte ich nur den Chef gefragt, ob ich an einem Tag früher nach Hause dürfte.

Jetzt habe ich eine neue Arbeit in der Reinigung gefunden. Zwar muss ich nicht mehr so lange dafür fahren, aber mit nur zwei Tagen in der Woche reicht dieser Job noch nicht zum Leben aus. Ich bin also erst einmal weiter auf Arbeitssuche.

Mein Aufenthalt ist derzeit auf zwei Jahre befristet. Mein Ausweis läuft nächstes Jahr ab. Ich würde gerne in Deutschland bleiben. Es wird dauern, bis der Krieg in Syrien vorbei ist und das Land wiederaufgebaut werden kann. Die Menschen in Hannover sind nett, ich fühle mich sehr wohl. Das Einzige, was mich traurig macht, ist, dass ich nicht reisen darf und kann. Meine Verwandten, die in Syrien geblieben sind, habe ich seit fast neun Jahren nicht mehr getroffen. Wenigstens meinen betagten Vater würde ich gern vor seinem Tod noch einmal sehen.

Zain Alhammoud (23), München

Schon an Tag nach unserer Ankunft habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Weil die Sprachschulen überfüllt waren, musste ich auf die Kurse oft monatelang warten. Die letzte Prüfung habe ich mit Bestnote geschafft. Sie erlaubt mir, auf die Uni zu gehen. Mein Abi aus Syrien wurde kürzlich anerkannt: Nach dem deutschen Notensystem steht bei mir eine 1,6 im Zeugnis. Ab dem nächsten Jahr werde ich Informatik oder Erneuerbare Energien studieren.

Bis dahin wollte ich eigenes Geld verdienen. Seit dem vergangenen November bin ich bei einer Wohlfahrtseinrichtung in München eingestellt. Als pädagogischer Assistent arbeite ich in einer Flüchtlingsunterkunft ähnlich wie der, in der wir selbst vor etwa fünf Jahren gewohnt haben.

Mein Vater war in Syrien Philosophielehrer. Weil er das Regime kritisierte, wurde er ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Nach sieben Monaten kam er frei und floh mit meinen zwei Brüdern und mir nach Deutschland. Meine Mutter und meine Schwester sind geblieben. Als wir ankamen, haben wir zuerst in einem Dorf bei Riegen gewohnt. Dort kamen viele Flüchtlingshelfer uns besuchen, wir haben uns mit ihnen angefreundet. Auf dem Land habe ich mich niemals fremd gefühlt.

Danach wurden wir nach Abensberg "zugewiesen", wie es in Behördendeutsch heißt. In den Städten habe ich mich oft ausgegrenzt gefühlt. Wenn ich meine Herkunft erwähne, erlebe ich, dass sich manche schnell von mir distanzieren. Das tut weh. In München fand ich bisher auch keine Wohnung. Meine Anfragen werden meist nicht beantwortet. Zwei Wohngemeinschaften schrieben aber auch sofort zurück: "Du passt nicht zu uns." Vorstellungsgespräche hatte ich dort keine. Zum Glück stellt mein Arbeitgeber Wohnungen auch Mitarbeitern zur Verfügung. In so einer kam ich vorerst unter. Trotzdem suche ich - bisher erfolglos - weiter.

Ich lerne dauernd und arbeite hart, um meine Zukunftspläne zu erreichen. Das hat neben meiner Selbstverwirklichung noch einen Grund: Ich will verdeutlichen, dass wir keine "Taugenichtse" sind, wie es etwa die AfD behauptet.

Semira Kidane* (29), München

Deutschland ist sehr gut für mich. In meiner Heimat Eritrea durfte ich nicht zur Schule gehen. Ich konnte so gut wie gar nichts machen, außer meiner Mutter zur Hand zu gehen. Nach der Heirat wurde ich Hausfrau. Dagegen habe ich hierzulande bereits Sprachkurse besucht, außerdem einen "Orientierungskurs" über das Leben in Deutschland. Alle zwei Wochen treffe ich eine Gruppe von Leuten aus Deutschland, Frankreich, Rumänien und von überall sonst. Wir kochen zusammen, spielen Karten, machen Spaß und erzählen von uns oder unseren Ländern.

Mein Mann und ich wohnen mit unseren vier Kindern in einem Flüchtlingsheim. An die 400 Familien wohnen dort insgesamt. Gerade in Corona-Zeiten ist es nicht einfach: Die Zimmer sind klein, auf dem Flur teilen wir uns eine Dusche und eine Toilette mit den Nachbarn. Wir könnten uns leicht infizieren. Auch deshalb möchte ich in eine eigene Wohnung ziehen. Aber das ist kaum möglich: Mein Ausweis war immer nur ein Jahr gültig. Jetzt sind es sogar nur noch sechs Monate. Was können wir unter diesen Umständen machen?

Davor waren wir acht Jahre lang in einem Flüchtlingslager in Libyen. Dort ist es aber sehr gefährlich. Frauen können ohne einen Mann an ihrer Seite nicht einmal im Supermarkt einkaufen gehen: Man würde sie vergewaltigen und töten. Als wir uns ins Boot nach Deutschland setzten, war ich schwanger und hatte große Angst, dass wir nicht lebend ankommen werden. Wir hatten aber Glück.

Vor allem wegen meiner Kinder möchte ich gerne in Deutschland bleiben. Sie sollten zur Schule gehen können. Sollten wir nach Eritrea zurück müssen, habe ich am meisten Angst um meine Töchter. Eine Tradition verlangt, dass Mädchen beschnitten werden. Meine Mutter hat das bei mir auch gemacht. Aber gerade, weil ich das als Kind erlebt habe, will ich es für meine Töchter nicht.

Anas Dahous (21), München

Gerade habe ich meine mittlere Reife nachgeholt. Zwar hatte ich diesen Schulabschluss in Syrien bereits erworben, aber er wurde hier nicht anerkannt. Nach den Sommerferien geht es in der elften Klasse an einer Fachoberschule weiter. Ich würde gerne das Fachabitur schaffen und danach etwas mit Computern machen.

Mit 16 Jahren bin ich mit meinem älteren Bruder aus Aleppo geflohen. Nach anderthalb Jahren kam ich auf der Berufsschule in die achte Klasse. Unsere Eltern durften vor drei Jahren nachkommen. Deutsch habe ich - bis auf einen Kurs, den ich dann in der Berufsschule hatte - allein gelernt.

Meine Erfahrungen in Deutschland sind überwiegend gut. Auch wenn die Münchner zurückhaltender sein sollen als, zum Beispiel, die Kölner, habe ich inzwischen viele Freunde und Bekannte. Nur das Schulsystem finde ich ziemlich kompliziert. In der Corona-Zeit war es doppelt schwer. Meine Eltern, mit denen ich zusammenwohne, hatten sich mit dem Coronavirus infiziert. Ich musste mich also um sie kümmern und nebenbei für meine Prüfungen lernen. Der Online-Unterricht war eine extra Hürde. Meine Mitschüler und ich haben auf Unterstützung gehofft, aber es gab keine Erleichterungen. Nun habe ich keine so gute Note im Zeugnis - aber wenigstens habe ich bestanden.

Was sich bisher am schwierigsten gestaltet, ist allerdings die Wohnungssuche. Meine Eltern und ich müssen Ende September ausziehen. Bisher haben wir auf die vielen Bewerbungen aber nur Absagen kassiert. Einerseits kann ich das nachvollziehen: Ich gehe zur Schule, meine Eltern sind Rentner, wir bekommen Sozialleistungen vom Staat. Mein Bruder ist aktuell der Einzige von uns, der arbeitet. Andererseits verlangen die Vermieter mittlerweile sehr, sehr hohe Mieten.

Mein Aufenthalt ist auf drei Jahre befristet. Ich möchte aber dauerhaft bleiben. Ich will irgendwann Deutscher werden und überlege sogar, mich für ein Jahr bei der Polizei oder Bundeswehr zu verpflichten. Damit will ich diesem Land dienen, das uns in Sicherheit gebracht hat.

*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.
Original