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Mama gibt nicht auf

Im Jahr 2012 fühlte sich Sazia Pinno, als sei sie ins Meer gefallen: „Überall ist Wasser, und man sieht kein Ufer. Als ob man nicht schwimmt und langsam sinkt." Gerade noch hatten sie in der Eigentumswohnung im Grünen außerhalb von Bonn gewohnt. Zwei kleine Kinder und das gesicherte Einkommen ihres Ehemanns. Zusammen alt werden, das war ihr Plan. Dass sie als Paar nicht mehr funktionierten, wollte sie lange nicht wahrhaben. Doch dann trennten sich Pinno und ihr Mann.

Sazia Pinno spielt mit dem Gedanken, zurückzugehen - aber sie bleibt

Bis dahin hatte Sazia Pinno nur ab und zu nebenbei als Tagesmutter gearbeitet. Richtig einsteigen wollte sie erst wieder, wenn die Kinder älter sind. Um Formalitäten hatte sie sich deshalb wenig gekümmert. Ihren Bachelorabschluss in Psychologie, Soziologie und Islamwissenschaften aus Bangladesch etwa hatte sie in Deutschland nie anerkennen lassen. Sie hatte sich auf ihren Mann verlassen, auch finanziell. Zwei Kinder ernähren und eine eigene Wohnung finanzieren, das schien ihr unmöglich. Sie spielte mit dem Gedanken, nach Bangladesch zurückzugehen.

Knapp neun Jahre später, an einem warmen Juniabend 2021, steigt Sazia Pinno an einer Landstraße etwas außerhalb von Bonn aus dem Bus. Ihre bunte Tunika flattert im Wind, die glitzernden Armreifen schwingen hin und her. Sie läuft an Feldern vorbei zum Haus ihrer Patientin, die sie über Nacht betreuen wird. Von der Verzweiflung merkt man ihr inzwischen nichts mehr an. Im Gegenteil: Sie ist jetzt 48 und eine Frau, die weiß, was sie will. Sie wirkt größer als die 1,55 Meter, die in ihrem Ausweis stehen, und gestikuliert viel. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie oft hochgesteckt mit einer Blumenspange. Sie ist in Deutschland geblieben.

Als ihr nach der Trennung klar wurde, dass sie einen Job brauchte, der sie finanziell unabhängig macht, wusste Sazia Pinno nicht, wo sie anfangen sollte. Die Sprache war nicht das Problem. Sie und ihr Mann hatten zu Hause immer Deutsch gesprochen - nur Zertifikate, die das belegten, hatte sie nicht. Und die sind für viele Ausbildungen hierzulande verpflichtend. Sie versuchte es mit Minijobs: als Verkäuferin im Schreibwarenladen, beim Putzen und mit Gartenarbeit. „Aber das war keine Lösung", sagt sie. „Ich habe gemerkt, dass ich einen Beruf brauche." Beim Arbeitsamt schlug die Mitarbeiterin ihr ein Studium vor, aber Sazia Pinno lehnte ab. „Das hätte zu lange gedauert. Ich wollte möglichst schnell in einen Beruf." Die Mitarbeiterin schickte sie zur Anerkennungsstelle in Köln. Vielleicht könnte sie doch noch ihren Abschluss aus Bangladesch anerkennen lassen? Dort traf sie 2015 auf Heidemarie Jeep vom Projekt „Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein" des Bonner Vereins für Pflege- und Gesundheitsberufe. Das richtet sich - wie der Name verrät - an Mütter mit Migrationshintergrund, die einen Beruf erlernen und eigenes Geld verdienen wollen.

Heidemarie Jeep lud sie ein, sich das Projekt in Bonn anzuschauen. „Das war ein Klick-Moment", sagt Sazia Pinno. „Sofort habe ich gesehen: Die Frauen sind genau wie ich. Mein Alter, die gleiche Geschichte." Mithilfe des Projekts können Frauen bei Bedarf vor der Ausbildung Deutsch- oder Fachsprachkurse belegen, den Hauptschulabschluss nachholen, falls nötig, und anschließend Berufe wie Altenpflegerin und Erzieherin erlernen. Während der Unterrichtszeiten gibt es eine Kinderbetreuung. Es ist der Versuch, Frauen, die es mit Kindern und Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben und sich für diese Berufsperspektiven interessieren, zu unterstützen.

Warum sollen ausgerechnet Migrantinnen die schlecht bezahlten Jobs machen?

Von bisher 280 Teilnehmerinnen haben zwei Drittel heute eine Arbeit oder absolvieren Ausbildungen. Wenn Heidemarie Jeep das Projekt auf Fachtagungen vorstellt, kommt es schon mal vor, dass sie sich rechtfertigen muss: Warum sollen ausgerechnet Migrantinnen diese - schlecht bezahlten - Jobs machen? Wichtig ist ihr deshalb zu betonen: „Man kann Menschen nicht einfach so in diese Berufe zuweisen. Die Ausbildungen sind anspruchsvoll." Wer gar keine Freude daran habe, meint Jeep, werde scheitern. Viele der Frauen kämen mit dem konkreten Wunsch, einen Pflegeberuf zu erlernen, in das Projekt. Die Teilnehmerinnen schätzen auch eine Chance auf einen sicheren Arbeitsplatz in Bereichen, wo Personal händeringend gesucht wird. Heidemarie Jeep ist auch Anerkennungsberaterin. Wenn Frauen einen Studienabschluss oder eine Ausbildung aus dem Ausland anerkennen lassen wollen, hilft sie dabei.

Sazia Pinno entschied sich bewusst für die Ausbildung und gegen die Anerkennung ihres Studienabschlusses. Ihr waren Pflegeberufe nicht fremd, ihre Mutter arbeitete in Bangladesch als Oberkrankenschwester. In ihrer Kindheit wohnten sie oft in Dienstwohnungen auf dem Krankenhausgelände. Die Ausbildung bot ihr die Möglichkeit, in kurzer Zeit einen Beruf mit sicheren Jobaussichten zu erlernen, statt langwierig ein Studium mit unklaren Perspektiven anerkennen zu lassen.

In der Ausbildung stößt Pinno an ihre Grenzen

Doch warum finden Frauen wie Pinno nicht auch alleine in diese Berufe? Heidemarie Jeep sieht das Problem vor allem bei starren Voraussetzungen. Bei vielen seien es fehlende Zertifikate, obwohl das nichts über die Sprachkompetenzen aussage. „Aber dann heißt es: Hat kein B2 oder macht Rechtschreibfehler, die nehmen wir nicht." Viele wüssten aber auch schlicht nicht, wie man sich richtig bewirbt.

Nach einem B1-Deutschkurs und einem Praktikum fühlte sich Sazia Pinno 2015 sicher genug für die dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin - und erfüllte auch die formalen Voraussetzungen. Trootzdem stieß sie oft an ihre Grenzen. Schwierige Klausuren, immer wieder die lähmende Angst, es nicht zu schaffen, und gleichzeitig die Kinder mit ihren Schulproblemen. Ihr Ex-Mann unterstützte sie und nahm die Kinder in schwierigen Phasen zu sich, damit sie in Ruhe lernen konnte. Im Februar 2019 bestand sie die Abschlussprüfung. Auf Facebook hat sie Fotos der Abschlussfeier veröffentlicht: In der einen Hand hält sie ihr Zeugnis, in der anderen eine Rose. Ihr Ex-Mann und die Kinder, mittlerweile 14 und 16 Jahre alt, sitzen im Publikum. Sie bekommt sofort nach dem Abschluss eine feste Vollzeitstelle.

Die Ausbildung und der Beruf haben sie verändert, sagt sie heute. Sie ist unabhängig, finanziell sicher und weiß, dass sie auch allein klarkommt. Ab und zu verreist sie mit den Kindern. In London und Paris waren sie schon. Etwas von der Welt sehen, das ist jetzt ihr Traum. Reich wird sie mit dem Job nicht. „Wir Pflegekräfte werden schlecht bezahlt. Das kann schon traurig machen. Hätten wir nicht ein Recht auf bessere Bezahlung, bei dem, was wir für die Gesellschaft tun? ", fragt sie. Glücklich macht Sazia Pinno, ein Vorbild für ihre Kinder zu sein. „Meine Tochter sagt immer: ‚Mama du bist so stark, ich habe nie eine so starke Frau gesehen. Du bist in diesem Alter, kommst aus einem anderen Land, sprichst eine andere Sprache, aber du hast gekämpft.' Das sollen die Kinder auch von mir mitnehmen: Mama gibt nicht auf."

Sazia Pinno ist am Haus ihrer Patientin angekommen. Die Haustür steht offen, im Vorgarten schneidet der Ehemann Blumen. Sie haben sich ein paar Tage nicht gesehen, Sazia Pinno hatte frei. Sie unterhalten sich, lachen. „Ich bin jetzt schon zwei Jahre hier bei Ihnen. Vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht, aber mein Weg war nicht so leicht. Die Journalistin hier schreibt einen Text darüber", sagt Sazia, lächelt und fasst die letzten Jahre in wenigen Sätzen zusammen. So wie sie es sagt, klingt es leicht und logisch. Ausbildung, dann Beruf. Nebenbei Kinder, klarkommen in Deutschland.

Dann geht Sazia Pinno, 48 und zweifache Mutter, seit zwei Jahren Intensivpflegerin in Vollzeit, ins Haus zur Arbeit. Es war ein langer Weg.

Fotos: Nick Jaussi
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