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Das verflixte erste Jahr

Für manche die schönste Zeit des Lebens, für andere der pure Stress. Hier erzählen Berliner Eltern über den ganz normalen Wahnsinn zwischen Schlafraub, Kitasuche, Babykursen und dem Bedürfnis nach etwas Zeit für sich.

Obwohl es draußen kalt war, schwitzte ich. Kein Wunder, denn an meinem T-Shirt klebte ein kleiner, warmer Backstein. Mein drei Monate altes Baby schnarchte in seinem Tragetuch ahnungslos vor sich hin, während um mich herum schätzungsweise 45 Eltern sitzend, liegend, und stehend einer Kita-Leiterin lauschten. Wir alle waren zur Info-Veranstaltung einer Großkita gepilgert.

Die Akustik war schlecht, vor mir hüpfte eine Mutter auf und ab, um ihr schreiendes Kind zu beruhigen. Der Startschuss drang trotzdem an mein Ohr: „Lassen Sie bitte Ihre Kontaktdaten hier...." Schon scharrten die ersten mit den Füßen, denn gleich kam der wichtigste Teil der Veranstaltung: die Kontaktliste. Auf der trägt man sich ein, in der Hoffnung, irgendwann würde sich jemand mit der frohen Botschaft melden: „Gratuliere, Sie haben einen Kita-Platz!"Draußen schnappte ich erst einmal nach Luft - „wie in einem überfüllten Club ohne VIP-Platz", dachte ich. Übler Sound und zu voll ist es auch mal wieder.

Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass es so kommt. Vorboten gab es nämlich genug. Damals, als meine Freundin aus Prenzlauer Berg, mit der ich gleichzeitig schwanger war, mir euphorisch verkündete, ihre Hebamme habe jetzt doch einen Platz in der anthroposophischen Geburtsklinik Havelhöhe ergattert: „Die kennt halt die richtigen Leute", sagte sie nicht ohne Stolz - trotz überfülltem Terminkalender war ihr so noch ein Plätzchen für die Niederkunft in ihrem favorisierten Krankenhaus freigeräumt worden. Überhaupt, Hebammen: Wer in den nach wie vor geburtenstarken Berliner Stadtteilen wie Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder meinem Heimatkiez in Friedrichshain wohnt, sollte sich am besten, bevor der zweite Streifen auf dem Test erscheint, schon mal umhören. „Dein Geburtstermin ist ja in den Ferien, da kann ich nicht!", empörte sich eine Dame, als ich sie anrief, um nach ihren Diensten zu fragen. Immerhin, sie hatte im Gegensatz zu den fünf anderen zurückgerufen. Und selbst der gut vernetzten Hebamme meiner Freundin war der Weg in den Nachbarbezirk zu weit: „Das liegt nicht auf meiner Route, die geht von Mitte über Prenzlauer Berg nach Pankow."


Nach drei weiteren Versuchen, eine Geburtshelferin zu finden, kam ich ins Grübeln. War ich mit meinen 15 Schwangerschaftswochen wirklich schon zu spät unterwegs in Sachen Nachsorge? Oder war die ganze Kinderkriegengeschichte an ähnliche Mechanismen gekoppelt, wie der Rest unserer durchkapitalisierten Welt: Wenn ein begehrtes Gut auf direktem Weg schwer zu bekommen ist, muss ich eben jemanden finden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der - richtig, es beschaffen kann, notfalls unter der Hand? Networking würde man es in der Berufswelt nennen oder Vitamin B bei der Wohnungssuche. Oder eben einfach einen guten Dealer in Sachen Kinderware. Denn sind wir mal ehrlich: Natürlich ging es bei der ganzen Sache auch um gewisse Ansprüche. Gerade, wenn es um das eigene Kind ging, konnte auf einmal nichts gut genug sein.


Unterhalb der A-Klasse ging auf einmal nichts mehr. Bei der Suche nach Geburtsklinik, Hebamme, Kinderarzt oder - der Königsdisziplin - einem geeigneten Kita-Platz suchte man quasi nach der Altbauwohnung mit Südbalkon, Badewanne und abgezogenen Dielen. Den gutbezahlten Job mit Aufstiegschancen und interessanten Aufgabengebieten. Mir fielen meine Nachbarn, Eltern von zwei Kindern, ein: Waren das nicht kompetent wirkende Leute, die mir einmal losen Thymiantee vorbeigebracht hatten, als ich bedenklich schwer im Treppenhaus hustete? Die Lösung lag also nur zehn Treppenstufen von mir entfernt. Ein Anruf und ein lieber Gruß von meinen neuen Hebammen-­Dealern genügte, und ich war versorgt.


Damit, dass einen Platz in einem Geburtsvorbereitungskurs zu ergattern, in etwa so schwierig ist, wie an dem stadtbekannten Türsteher des Berghains vorbeizukommen, konnte ich mich abfinden. Gemeinsam schnaufen und kreischen tue ich nämlich tatsächlich lieber auf der Tanzfläche als in einer Runde engagierter Mitschwangeren. Da war mir ein Rückbildungskurs schon wichtiger: Wieder in Form kommen und auf seine eigenen Füße schauen, darauf wollte ich nicht verzichten. „Super, ich schreibe dich auf unsere Liste", verkündete eine gut gelaunte Stimme am anderen Ende der Leitung. „Welche Liste", fragte ich irritiert, „bin ich denn jetzt nicht angemeldet?" Die gut gelaunte Stimme kicherte amüsiert: „Nee, Du bist jetzt erst einmal auf der Warteliste, aber keine Angst, da springt noch mindestens die Hälfte ab."

Bei all den verrückten Gefühlen und Herausforderungen, mit denen man im ersten Jahr konfrontiert wird, war ich ganz schön dankbar, in Deutschland zu leben. Ich konnte mir ein Jahr freinehmen, ohne mir Sorgen um meine Finanzen zu machen. Nach den ersten vier Monaten haben wir mit so wunderbaren „Aktivitäten" wie Baby-Schwimmen oder Baby-Massage angefangen. Auch mit PEKiP. Das war so großartig, dass sich unsere Gruppe noch immer einmal die Woche trifft. Die Kurse hatten alle ihren Preis, aber da sie einen stimulierenden Effekt auf Vivienne hatten, fanden wir, dass das Geld gut angelegt war.

Ich wusste von Anfang an, dass ich den verrückten Kampf um einen Kita-Platz nicht mitmachen wollte. Als wir die richtige Kita für uns gefunden hatten mussten wir uns der harten Realität stellen. Wir haben unseren Namen auf die Warteliste gesetzt und die 2,5 Jahre Wartezeit akzeptiert. Unsere kleine Vivienne hat also erst im August 2017 einen Platz. Zum Glück habe ich sehr verständnisvolle Chefs und konnte meine Elternzeit verlängern. Das schlägt sich natürlich finanziell nieder, aber die dadurch gewonnene Zeit mit unserer Tochter bedeutet uns mehr.


Diesmal bemühte mich nicht um den nötigen Kontakt zu einer Rückbildungslehrerin, die mir unter Hand einen guten Deal auf ihrer Übungsmatte anbot. Stattdessen widmete ich mich lieber der offenbar inoffiziellen Hauptaufgabe im Elternjahr - eine Kita finden. Denn, so hatten mich sämtliche Freunde mit Kindern gewarnt: „Fang bloß rechtzeitig an zu suchen, damit du einen Platz bekommst."


Und nun war ich doch in Schwitzen geraten. Und das, obwohl Geburt und erste Wochen mit einem Neugeborenen bereits hinter mir lagen. Nachdem ich mich in der Großkita an den hinausströmenden Eltern vorbeigeschlängelt hatte, eilte ich ohne mich noch einmal umzuschauen weiter. Mein Plan: Ich hatte mir eine Art Route durch den Kiez und die angrenzenden Bezirke gemacht, die der Länge nach einer Schlafeinheit meiner Tochter entsprach. Zeitmanagement ist alles, soviel hatte ich in den wenigen Wochen meines Mutterdaseins schon gelernt. Auf der Suche nach einem geeigneten Platz in der Kita meines Vertrauens hatte ich schon einige höchst irritierende Überraschungen erlebt: „Dein Vorname ist ungewöhnlich, das ist schon mal gut," attestiert mir beispielsweise ein Erzieher, den ich während des Tagesgeschäfts in einem kleinen Friedrichshainer Kinderladen beehrt hatte. „Beim Info-Abend stichst du dann zwischen den anderen heraus." Ein anderer rief mir beim Betreten seines Büros ungehalten zu: „Tür können Sie gleich auflassen, Sie wollen sicher nach einem Kita-Platz fragen, oder? Alles dicht. Bis 2018." Wieder andere waren deutlich freundlicher, was an der Sachlage nichts änderte: „Merken Sie sich bitte die Nummer 75, das ist ihr Platz auf der Warteliste. Und dann immer schön am Ball bleiben, E-Mails schreiben, vorbeikommen, dann klappt es meistens." Wie genau das mit der Vergabe der Kita-Plätze laufen soll, das wusste noch nicht mal die Dame vom Jugendamt: „Das ist wie die Reise nach Jerusalem, am Ende bekommen alle eine Stuhl - außer einem natürlich", lächelte sie mit augenzwinkernd zu. „Die Kitas verzweifeln aber selbst daran, dass es kein offizielles System gibt, um die Vergabe zu regeln", erklärte sie.


Mittlerweile hatte ich mich in meinem neuen Job als Familienmanagerin schon ein wenig professionalisiert. Zeitmanagement und Organisationsfähigkeiten waren gefragt, eigentlich genau wie im Berufsleben. Dazu gehörte selbstverständlich auch eine sorgfältig ausgearbeiteten Excel-Tabelle:„Schriftliche Bewerbung geschrieben, telefonisch nachgehakt, nochmal melden, kein Platz" hießen die Rubriken. Am Ende zierten meine Liste rund 20 Kindertagesstätten in Friedrichshain und den angrenzenden Straßen in Lichtenberg, Prenzlauer Berg und Mitte. Ich mache es kurz: Ich war die ohne Stuhl. Als häufigster Grund wurden die Geschwisterkinder angegeben, die automatisch unterkamen und die vor allem in den kleinen Kinderläden mit zwölf bis 25 Kindern einen Großteil der Plätze belegten. Wieder andere hatten von vornherein einen Aufnahmestopp eingelegt, aber von den meisten hörte ich schlicht nie wieder etwas.


Kurz vor Ende meines Elternjahres hatte ich endlich begriffen, dass diese vermeintlich hermetische Welt des erste Babyjahres zwischen Kreißsaal und Kinderspielplatz kein diskursfreier Raum war, in den man einfach für ein Jahr abtauchen konnte. Nein, ein Kind zu bekommen, hieß vor allem seine Skills in Sachen Multitasking zu verbessern und hocheffiziente Vernetzungsstrategien zu entwickeln. Und das vor allem in den Berliner Bezirken, wo sich vermehrt eine Elternschaft niedergelassen hat, die zwar seit Jahrzehnten in der Hauptstadt feiert, ein bisschen studiert, danach Projekte initiiert und Startups gründet, sich nun aber auf einmal doch die heimelige westdeutsche Kleinstadt der eigenen Kindheit zurück wünscht, in der alles so schön geregelt und überschaubar war. Wo der Wurstverkäufer beim Kaufmann um die Ecke immer eine lächelnden Mortadella für einen bereit hielt und danach die Welt irgendwie in Ordnung war. Und in der das wichtigste Netzwerk vergangener Zeiten - die eigene Familie - bei vielen nicht mehr die erste Adresse war, wenn es um konkrete Alltagsbewältigung ging.


In den unsichtbaren Koordinaten zwischen Drogeriemarkt, Wickelkommode und Kindercafé war ich also in ein neues urbanes Regelwerk geraten: die Eltern-Matrix. Nachdem sich die Suche nach einem Kinderarzt schwieriger gestaltete als Mitglied in einem Manhattaner Privatclub mit Rooftop Terrace zu werden („Die Ärztin entscheidet von Fall zu Fall, ob wir noch Patienten annehmen. Sie ruft Sie heute Abend für ein Auswahlgespräch zurück"), musste ich jetzt nur noch einen letzten imaginären Stempel auf meiner Hand ergattern, der mir den Eintritt in den angesagtesten Laden der Stadt garantierte: der zukünftige Kindergarten meiner Tochter. Welchen Türsteher konnte ich bezirzen, der mich durch einen geheimen Seiteneingang hineinließ? Wieder einmal wünschte ich mir den Mortadella-Mann meiner Kindheit herbei. Aber ein Würstchenverkäufer eignet sich heutzutage natürlich nur noch schlecht als deus ex machina. Stattdessen trat ein befreundeter kinderloser Comiczeichner auf den Plan, der als Koch in einer bio-vegetarischen Kita mit Waldpädagogin arbeitete. Diesmal ging die Rechnung auf: Die bestbewachte Tür Berlins öffnete sich und am Ende des Elternjahres durften auch wir in die stickige, bunte und laute Welt unseres neuen Lieblingsladens eintreten. Die neuen Visitenkarten sammeln

Was tun aber mit all den neuen Kontakten und imaginären Visitenkarten meiner neuen Community, die ich hütete wie eine Praktikantin die kopierte Kontaktliste ihrer Agentur? Sollte ich es machen, wie die sogenannten Mompreneurs, das selbsternannte Netzwerk selbstständiger Mütter, die aus der Elternzeit heraus ein eigenes Business gründeten und ihr Muttersein als Alleinstellungsmerkmal für ihre berufliche Vita benutzen?


So kann man bei den Profilen auf der Seite Mompreneurs.de explizit lesen: „Anna, Handel, 3 Kinder". Oder: „Janna, Events & Gastronomie, 1 Kind." Neben dem Online-Netzwerk verzeichnet Mompreneurs.de schon lokale Standpunkte in Städten wie Berlin, Düsseldorf, Leipzig, Stuttgart und Zürich. Oder sollte ich lieber einen Dawanda-Shop eröffnen und selbstgenähte Wickeltaschen anbieten? Sicher ist es fürs Erste nicht verkehrt, die einmal gewonnen Verbindungen weiter zu pflegen. Regelmäßig tausche ich mich zum Beispiel im E-Mail-Verteiler mit meiner ehemaligen Pekip-Gruppe aus: Wo gibt es ein neues leckeres Familienfrühstück oder wer hat einen der teuren Cosilana-Biowolle-Overalls günstig abzugeben? Demnächst schaut sich sogar eine der Mütter unsere freiwerdende Wohnung an.


Eine Sache hat sich seit dieser Zeit besonders bewährt: Ich habe eine neue Freundin gefunden. In einer der seligen, entspannten Stunden, in der man sein junges Elternglück genießt und ganz ohne Termindruck mit Kinderwagen durch den Kiez streift und die frische Luft genießt. Wie genau ich das angestellt habe, verrate ich nicht. Geschäftsgeheimnis.

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