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All die kleinen Einfamilienschachteln

The Womenfolk im Jahr 1965 mit dem Gastgeber in der Ed Sullivan Show. Bild: The Womenfolk / Leni Ashmore Sorensen

Es war schon später Nachmittag, unsere Beine wurden schwer. Den ganzen Tag hatten wir das architektonische Zuviel der Stadt erkundet, neugierig und überfordert wie alle, die zum ersten Mal nach New York kommen. Nur einige Klischees: Bagelfrühstück im Central Park, geschichtsbewusstes Passieren der Carnegie Hall, Begutachtung von Bauhausmöbeln und van Goghs „Sternennacht" im Museum of Modern Art. Der Trump Tower, totalitäre Monstrosität aus Glas und Gold, die wir umvölkert von Grinsenden in roten Kappen vorfanden, gab uns den Rest. Wir wünschten Pluralismus und wanderten weiter zum Hauptquartier der Vereinten Nationen, einer riesigen Cornflakes-Schachtel, die sich an diesem Tag im April 2019 als nicht besuchbar erwies.

Weil noch etwas Zeit blieb, bis wir mit einem Freund in Chinatown verabredet waren, machten wir Rast im Tompkins Square Park, einem grünen Quadrat inmitten von Häuserblocks. Es war T-Shirt-Wetter, zudem ein Freitag, was die Menschen ins Freie trieb. Eine Jazzband spielte.

Nach ein paar Minuten nahm neben mir auf der Parkbank eine ältere Frau mit kurzen Haaren und ernstem Gesicht Platz. Sie sprach mich an, offenbar plauderlustig, und wir betrieben Smalltalk. Ich erkundigte mich, in welchem Teil Manhattans wir uns befänden. Im East Village, klärte meine Sitznachbarin mich auf, was mir nicht viel sagte, außer dass es einwandfrei nach New York klang, mir also behagte, zumal ich jetzt wohl mit einer echten New Yorkerin sprach.

Nun, erklärte die Frau, eigentlich komme sie aus Kalifornien, lebe aber seit 1979 in New York. Das erste Mal sei sie allerdings schon 1965 hier gewesen, um mit ihrer Band in der „Ed Sullivan Show" aufzutreten. Jetzt war ich fasziniert. Das war die Fernsehsendung, in der ungefähr zur selben Zeit die Beatles vor einem Millionenpublikum die British Invasion lostraten. War meine Gesprächspartnerin eine berühmte Musikerin?

(...)

faz.net, 11. März 2021. Original