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Review

Was vom Serotonin übrigblieb

Phoebe Bridgers hören ist wie zur Ärztin gehen, nur um festzustellen, dass diese selbst diagnostiziert werden will. Zeig mir deine Albträume, und ich zeige dir meine, singt Bridgers, was bei „Punisher“ (Dead Oceans) gar kein übler Tausch ist. Ihr zweites Soloalbum vertont die große Los-Angeles-Traurigkeit mit leiser, dunkler Ironie: „I hate living by the hospital / The sirens go all night / I used to joke that if they woke you up / Somebody better be dying“ („Halloween”). Das balanciert oft schwermütig über gestrichene und elektrische Saiten, nur in „Graceland Too“ mischt sich ein Banjo ein, dazu die unverschämt jugendlichen Zeilen „So we spent what was left of our serotonin / To chew on our cheeks and stare at the moon”. Dosierte Hormontransaktionen, Krokodilstränen aus dem Wasserhahn („Savior Complex“) und Apotheken bei Nacht („Punisher“) verdichten sich zu dem Gefühl, dass das Leben selbst ein pathologischer Zustand ist, in dem Melancholie nicht das Gebrechen, sondern das Heilmittel darstellt. Wie Elliott Smith, dem sie den Titelsong widmet, singt Bridgers fast immer behutsam. Nur einmal, ganz am Ende, schreit sie unkontrolliert ins Mikrofon und lässt dann noch ein paar Sekunden stimmloses Fauchen folgen, und man weiß nicht, ob sie lacht oder weint, aber vermutlich lacht sie.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juni 2020.