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Sucht nach Ordnung

An einem Januartag im Jahr 2009 waren meine Eltern verreist, und ich saß fassungslos zu Hause am Schreibtisch. Vor mir lag der Rubik-Würfel, den ich ein paar Wochen zuvor in einem Spielzeugladen gekauft und bald frustriert aus meinem Leben verbannt hatte. Die ersten beiden Ebenen waren machbar gewesen, die dritte unmöglich. Mit der geballten Geduld, die ich als Dreizehnjähriger aufzubringen wusste, hatte ich mich nun ein letztes Mal an die Anleitung gesetzt, die ich einer nach Internet-Gründerzeit aussehenden Website entnommen hatte - und es tatsächlich geschafft. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Achttausender erklommen, als triumphseliges Mitglied eines exklusiven Klubs. Nur dass ich danach gleich wieder auf den Achttausender wollte.

Am meisten faszinierte mich das Ende. Der Moment, in dem das Durcheinander, das den Würfel wenige Züge vor Schluss noch durchzieht, plötzlich zu makelloser Ordnung findet, war ein so verblüffendes ästhetisches Erlebnis, dass ich nicht genug davon bekommen konnte. Die ersten zwei Drittel des gängigsten Lösungswegs bestehen aus Intuition und räumlichem Vorstellungsvermögen, im letzten Schritt hantiert man dagegen mit auswendig gelernten, scheinbar unerklärlichen Zugfolgen. Man kann das mit einem Gitarrenanfänger vergleichen, der zwar nicht weiß, warum die Fingerhaltung auf einem Akkorddiagramm jetzt G-Dur ergibt, sich aber freut, was für schöne Klänge er da erzeugt. Bis er begreift, warum die Töne zusammen so gut klingen.

Süchtig war ich bald. Nichts erschien mir logischer als das unablässige Lösen auf Zeit. Andere rennen, so schnell sie können, Tartanbahnen hinunter oder springen mit rudernden Armen in Sandkästen. Ich wollte den Würfel lösen. In sechzig Sekunden. In zwanzig. In zehn. Das konnte ich fünf Stunden am Tag tun, ohne dass mir langweilig wurde. Warum?

In Daniel Kehlmanns Roman „F" kommt ein katholischer Priester vor, der insgeheim Atheist ist und dem Würfel mit quasireligiöser Hingabe verfällt. Statt die Beichte abzunehmen, will er lieber an seiner Bestzeit von neunzehn Sekunden arbeiten. „Um ein Uhr war ich kurz davor zu gestehen, dass ich nicht an Gott glaubte, tat es aber doch nicht und sprach stattdessen von Karl-Eugen Immermann, dem dreizehnjährigen Jungen, der bei jedem Wettbewerb genau drei Sekunden schneller war als ich."

Die Wahl des Namens, der wirklich sehr das Würfler-Stereotyp des blassen Buben mit Hornbrille evoziert, sei Kehlmann verziehen. Bloß dass man mit einem Rekord von neunzehn Sekunden ohnehin keine Medaillen gewinnt, hätte er durch einen Blick auf die Seite der World Cube Association recherchieren können. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 3,47 Sekunden, in der Weltrangliste stünde Kehlmanns Priester - der im Buch Meisterschaftsambitionen hat - auf Platz 47 484 . Auch die Metapher des Würfels als Gottesersatz scheint mir ziemlich übertrieben.

Doch war ich als Kind nicht ähnlich obsessiv? Wenn nicht auf die Weise des Priesters, dann zumindest auf die seines präpubertäreren Widersachers. Anfangs flehte ich meine Mutter förmlich an, mit mir zu Turnieren zu fahren. Also langweilte sie sich in Gütersloh oder Aachen, während ich vor lauter Aufregung, die das Klackern Hunderter gleichgesinnter Würfler (wir sagen: Cuber) in mir auslöste, zu essen vergaß. Inzwischen ist mir das Würfellösen Routine. Seit 2009 habe ich an mehr als hundert Turnieren teilgenommen, in Rösrath, Dresden, Bangkok, Melbourne, Rückersdorf. Ein paar habe ich gewonnen, oft war ein Dreizehnjähriger schneller.

Bin ich mit vierundzwanzig nicht zu alt dafür? Am Abend vor einem Turnier sagte kürzlich ein Freund zu mir, dass es im Prinzip zwei Arten von Cubern gebe. Für die einen stehe das Lösen im mathematischen Sinne im Vordergrund - die neuen Techniken, die optimalen Algorithmen („Das letzte F2L-Pair hättest du mit einem Blockkommutator lösen können!"). Für die anderen überwiege die emotionale Seite: das Reden darüber, wie es sich angefühlt habe, schon wieder im fünften Versuch die Bestzeit zu vergeigen. Ich kann mich mit beiden Seiten identifizieren, aber je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich früher zu ersterer tendiert habe und mich heute der emotionale, soziale Aspekt an den Würfel bindet. Er ist ein Mittel zum Zweck geworden: dem des Reisens zu Turnieren, des Sich-gemeinsam-Freuens und -Ärgerns über Best- und Schlechtestzeiten.

Unterdessen professionalisiert sich der Sport Speedcubing unaufhaltsam. Mehr als 140 000 Menschen haben mittlerweile an offiziellen Wettbewerben teilgenommen, die schnellsten bekommen Sponsorenverträge. Eine Zeitlang übernahm ein chinesischer Würfelhersteller meine Turnierreisekosten, bis ich mich auf Facebook mit Hongkong und Taiwan solidarisch erklärte und das Unternehmen die Zusammenarbeit mit mir beendete. Kehlmanns würfelnder Priester sagt zwar: „Entgegen all meinen Hoffnungen waren die Regierungen nicht interessiert an den Diensten von Rubik-Könnern, auch die großen Firmen hielten nicht Ausschau nach ihnen." Ein Nebeneinkommen lässt sich damit aber sehr wohl verdienen.

Wo sich mit nerdig-schrulligem Sportsgeist Geld machen lässt, ist auch die österreichische Getränkeindustrie nicht weit. Gerade fand in Moskau eine von Red Bull organisierte Alternativ-WM statt - hohes Budget, schicke PR-Videos, vor allem aber ausgesprochen geringes konzernseitiges Interesse am Würfel selbst. Dass Cuber ihr Hobby bald zum Hauptberuf machen können, ist also vorstellbar, man denke nur an Schach oder E-Sport. Das popkulturelle Image des Würfels jedenfalls verbessert sich rasant. Auch wenn erwerbssuchende Würfler nicht darauf zählen sollten, sich irgendwann wie der gute Will Hunting im Büro eines Geheimdienstlers wiederzufinden, der sie für ihre Fähigkeiten zur NSA holen möchte, hat sich der Cube zuletzt an keiner Stelle so sehr in die Weltgeschichte eingeschrieben wie dort.

Im Frühling 2013 verabredete sich der NSA-Analyst Edward Snowden in einem Hongkonger Hotel mit Glenn Greenwald und Laura Poitras, um ihnen zu schildern, wie die amerikanische Regierung die Bevölkerung ausspioniere. Seine Anweisung an die Journalisten: Haltet Ausschau nach dem Typen mit dem Zauberwürfel. In seiner Autobiographie „Permanent Record" nennt Snowden den Cube sein Totem - und verweist auf den Vorteil, dass sich unter den Käppchen der Mittelsteine hervorragend Speicherkarten verstecken lassen.

Es passt wohl, dass das schönste mir bekannte Stück Würfelprosa nicht von dem Schriftsteller Kehlmann stammt, sondern vom Whistleblower Snowden, der wie kaum sonst jemand für eine entschleierte Moderne steht. Der Würfel, schreibt Snowden, erfülle „eine Universalphantasie: dass alles, was auf der Welt verdreht und inkohärent scheint, irgendwann einrasten und perfekt justiert sein wird, wenn man nur hart genug daran arbeitet; dass menschliche Raffinesse genügt, um jedes noch so defekte und chaotische System in eine logische Ordnung zu verwandeln, die alle Seiten des dreidimensionalen Raumes in perfekter Eintracht erstrahlen lässt".

Ein kindlicher Idealismus liegt in diesem Glauben an die fortwährende Simultanübersetzung von Verwirrung in Harmonie. Sie dauert nur ein paar Sekunden. Und begleitet mich schon fast mein halbes Leben.


20. März 2020.

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