Die meritokratische Lüge: Nele Pollatschek porträtiert das System Oxbridge.
Im Juli 2019 erschien in der London Review of Books ein Essay des Literaturkritikers James Wood, in dem er sich schaudernd an seine Mitschüler am Eliteinternat Eton erinnerte. Der Artikel liest sich wie eine Führung durch das Gruselkabinett des Brexit. Dem jungen David Cameron bescheinigt Wood gekonntes "Abfedern von Anspruchsdenken durch Charme", Jacob Rees-Mogg sei vom Moment seiner Ankunft an berüchtigt gewesen, "weil er niemals jung wirkte", und Boris Johnson habe sich schon damals als leicht wahnsinnig anmutender Chaot mit "stümperhaftem Selbstvertrauen" geriert.
Alle drei - Cameron, Rees-Mogg und Johnson - studierten später in Oxford. Glaubt man Wood, brachten sie vornehmlich zwei Eigenschaften dorthin mit: erstens die in Eton erlernte Nostalgie für das britische Empire - und zweitens die tiefe Überzeugung von ihrer eigenen Effortless Superiority, ihrer mühelosen Überlegenheit. Von Begegnungen mit ähnlichen Lichtgestalten berichtet Nele Pollatschek in ihrem lesenswerten "Liebesbrief an England". Sieben Jahre hat die im Jahr 1988 in Berlin geborene Anglistin an den beiden Universitäten verbracht, deren Namenskreuzung Oxbridge stets auch politische Macht signalisiert; mehr als drei Viertel der britischen Premierminister haben dort studiert. Während ihrer Promotion in Oxford wird Pollatschek von einem Studenten angegraben, der sie, offenbar mangels eigener Persönlichkeit, damit beeindrucken will, dass seinem Vater der berühmte Londoner Marquee Club gehöre. In Cambridge, wo Pollatschek ein Jahr als Heidelberger Austauschstudentin verbringt, wird sie Ohrenzeugin einer Witzelei zwischen einem Politikstudenten und seinen Freunden: "Komm, wir spielen sozialer Wohnungsbau. George ist eine alleinerziehende Mutter und wir sind seine fünf Kinder. Du kannst der Alki-Vater sein." (...)
Süddeutsche Zeitung, 24. Februar 2020.
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