Wir wollten raus aus der Stadt. Wir wollten zwischen Bäumen statt Häusern laufen, wir sehnten uns nach weiten Ausblicke, alten Geschichten, frischer Bergluft und einem Gipfelpicknick. Montserrat gab uns alles.
Im Zugfensterrahmen tauchen zerfallene Häuser und Industriestädte auf. Bei der einstündigen morgendlichen Fahrt von Plaça Espanya nach Aeri Montserrat fallen mir immer wieder die Augen zu, und jedes Mal, wenn ich sie öffne, ist das Land immer noch flach, die Flüsse immer noch braun. Es hat erst geregnet. Reiher stehen unbeweglich auf Steinen. Die Wolken hängen im Himmel. Wir rollen weiter. Wo sind die Berge, wo ist das Kloster Montserrat? Andere Menschen in flachen Sandalen oder Wanderschuhen sitzen neben uns, die Spanienreiseführer liegen im Schoß.
Rechts taucht es auf, ein Sandsteingebirge voller Felsspitzen, der Gipfel 1236 Meter hoch. Mit der gelben Seilbahn, 1930 erbaut von der Leipziger Firma Adolf Bleichert & Co, geht es gerade noch oben. Die Felsnadeln zur linken Seite erinnern mich an die Sächsische Schweiz. Die deutsche Schülergruppe in der Seilbahn scheint noch mit den Nachwirkungen letzter Nacht zu kämpfen, einer von ihnen schaut ins steile Tal mit dem gleichen Blick, wie er wohl letzte Nacht in das Glas schaute. Oben angekommen, gibt es noch mehr: mehr Menschen, mehr Kameras, und eine Handvoll Cafés und Supermärkte. Es wirkt wie in einem Schweizer Bergdorf, das für Wintersporttouristen errichtet wurde.
Rechts prangt die Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat, Spaniens zweitwichtigstes Pilgerziel nach Santiago de Compostela: die Fassade wirkt unscheinbar, doch die Basilika aus dem 16. Jahrhundert im Inneren ist beeindruckend. An den Seiten hängen wunderschöne orientalische Lampen, an der Decke kreuzen sich blau-goldenen Ornamente. Kurz vor 13 Uhr füllt sich die Basilika und wir stehen wieder inmitten von vielen Menschen, welche diesmal die Köpfe nach oben recken, die Arme heben und auf den Auslöser der iPads klicken. Kein Blitz, bitte. Klick. Der Knabenchor beginnt zu singen, Jungs im Alter von 9 bis 14 Jahren, die eine vierjährige Ausbildung an der hiesigen Escola Montserratina absolvieren. Sie ist eine der ältesten Musikschulen Europas, bereits im 13. Jahrhundert wurden junge Musiker hier ausgebildet. Und wenn wir uns ganz auf den Gesang konzentrieren, der alles erfüllt, und alles andere, was klickt und blitzt, ignorieren, wenn wir auf die Lampen, die Decke und die Jungs in ihren weißen Kutten schauten, dann spüren wir die Magie und die Geschichte.
Aber wir wollten doch raus. Ein bisschen Bergeinsamkeit und klare Luft, im Naturpark neben dem Kloster. Es dauert nicht lange. Am Museum und der Kloschlange vorbei, dann folgen wir dem Schild: Sant Jeroni, 1:45 Stunde. Schon beginnen wir, wieder einzelne Leute und nicht nur Menschenmassen zu sehen. Wir grüßen uns, als wären wir auf einem Wanderweg in den Alpen. Die Treppen führen steil nach oben und bald verwandelt sich der Weg in einen Waldpfad. Hier sind wir alleine genug, über Stock und Stein laufen wir höher, und haben Zeit für Felsfantasiebilder -sieht dieser Fels nicht aus wie ein Mann mit festem Bierbauch? Und der andere wie ein versteinerter Weihnachtsmann mit Vollbart und Knollennase? Rund und gemütlich wirkt die Berglandschaft. Wir laufen zwischen Bäumen statt Häusern, riechen frische Bergluft statt dichter Stadtluft.
Ganz oben sehen wir in die Weite - fast. Die Wolken schieben sich vor die Pyrenäen, das Meer und Barcelona. An guten und klaren Tagen sieht man laut Reiseführer alles drei. Die Sonne kommt durch, als wir auf einem Felsvorsprung Baguette, Käse und Tomaten auspacken. Vögel schwingen über uns, wir hören ihre Flügel gegen die Luft schlagen, wenn sie nah vorbeifliegen. Neben uns stürzen die Felswände steil hinunter, als hätte jemand mit einer gigantischen Axt Kerben hineingehauen. Oder hineingesägt, ganz wie die Übersetzung von Montserrat: "Säge-Berg". Wir wählen den Rundweg zurück, laufen auf einem anderen Waldpfad zur Funicular Sant Joan. Bevor wir uns wieder zwischen Kameras und Riemchensandalenträgerinnen befinden, erhaschen wir noch einmal einen Blick auf das Kloster zwischen den Bäumen hindurch: Ganz ruhig und gelassen hockt es da unten zwischen den Felsen. Entspannt laufen wir zurück.
Quellen: Bilderrechte: beide Bilder via pixabay