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Telegram ist nicht zu fassen

Im Runet, dem russischen Internet, keimt Widerstand: Pawel Durow trägt schwarz, sein Blick ist unbeugsam, fast schon gelangweilt, doch trotz seiner Jugendlichkeit hart und bestimmt. So als würde der Telegram-Entwickler am Ende doch Recht behalten. Der Trotz in den Augen des 33-Jährigen - Exil-Russe, Mathegenie und Milliardär - gilt den russischen Behörden. Nachdem Telegram den russischen Geheimdiensten die Entschlüsselung privater Chats verweigerte, hatte der Oberste Gerichtshof Mitte April die Blockade des Messengers angeordnet. Der russische Inlandsgeheimdienst nimmt an, dass auch Terroristen die verschlüsselte Kommunikation der App nutzen. Seit seiner Gründung im Jahr 2013 durch die Durow-Brüder wuchs Telegram in Russland auf 15 Millionen und weltweit auf über 200 Millionen Nutzer. In den 2000er-Jahren hatte sich Durow mit dem Aufbau des Facebook-Pendants Vkontakte einen Namen gemacht. Nach dessen Übernahme im Jahr 2014 durch ein Kreml-nahes Medienimperium kehrte Durow seiner Heimatstadt Sankt Petersburg den Rücken.

Pawel Durows derzeitiger Gegenspieler heißt Alexander Scharow, ist 53 Jahre alt und leitet die russische Medienaufsicht Roskomnadsor. Seinem 20 Jahre jüngeren Pendant Durow fehle es an "Gesetzestreue und Verantwortung", sagte Scharow der Zeitung Iswestija. Der unnachgiebige Bürokrat in Anzug und Krawatte fiebert nach Kontrolle über das Runet. Dabei hat er den Staat auf seiner Seite. Um ihr Geschäft in Russland nicht zu gefährden, rät er auch Amazon und Google, sich besser seinen Forderungen zu beugen.

Seit Wochen versucht der Roskomnadsor-Chef vergeblich, Telegram zu blockieren - unter dem spöttischen Jubel der Netzgemeinde. Mehrere Millionen IP-Adressen hat die Behörde lahmgelegt bei dem Versuch, die App zu fassen. Doch bei dem Katz-und-Maus-Spiel rutscht die Maus Durow der Katze Roskomnadsor immer wieder durch die Tatzen. Durow lockte seinen Gegenspieler Scharow geschickt in einen Hinterhalt: Telegram wechselte auf Server im Ausland, um Cloud-Dienste von Amazon, Google und Microsoft zu nutzen. Während Telegram auf immer wieder andere IP-Adressen springt, hinkt Roskomnadsor immer einen Schritt hinterher. Bei der Jagd quer durchs Netz hat der Messenger bisher klar die Nase vorn.

Denn Telegram ist weiter verfügbar in Russland - nur vereinzelt sind Nutzer der verschlüsselten Kommunikation auf andere sichere Verbindungen via Virtuelle Private Netzwerke (VPN) oder den Anonymisierungsdienst TOR ausgewichen. Statt dem eigentlichen Ziel - Telegram - legte Roskomnadsor unbeabsichtigt Chatdienste, Mobilfunkanbieter, Internethändler, eine Sprachschule und einen Kurierdienst lahm. Erst am vergangenen Donnerstag blockierte Roskomnadsor wieder 1200 IP-Adressen - darunter auch zahlreiche IP-Adressen von Whatsapp, Google und Facebook, wie der IT-Spezialist Filipp Kulin schreibt. Auch der elektronische Ticketverkauf für den Eintritt ins Kreml-Museum am Roten Platz war zeitweise nicht zu erreichen.

"Internetzensur ist kein Mittel gegen Terrorismus", betont Artjom Kosljuk, Leiter der Nichtregierungsorganisation Roskomsvoboda. Stattdessen sei das Vorgehen gegen Telegram "nur ein Vorwand, um den Bürger gezielt kontrollieren und überwachen zu können." Die Sperrung von Millionen IP-Adressen landesweit hätten den russischen Alltag gelähmt, statt den Terror zu bekämpfen. "Auch wenn sie seit Jahren daran gewöhnt ist, leidet die Bevölkerung darunter", sagt Kosljuk. Der 38-Jährige sieht in Pawel Durow eine Chance für das russische Internet. "Er hat bewiesen, dass er bereit ist, bis zum Letzten für die Freiheit des Runet zu kämpfen." Zudem habe er in den letzten Wochen mehrfach zu landesweiten Protesten aufgerufen, an denen sich Tausende beteiligten. Das gebe Mut für die Zukunft, meint Kosljuk.

Der Plan des Pawel Durow scheint aufzugehen. Der Entwickler schreibt von einem nur unerheblichen Rückgang der Nutzeraktivität auf seinem Messenger: "Ich danke Euch russischen Telegram-Nutzern für Eure Unterstützung und Treue. Danke, Apple, Google, Amazon, Microsoft, dass Ihr Euch nicht an der politischen Zensur beteiligt habt." Um die Netzfreiheit in Russland und weltweit zu wahren, unterstützt er Firmen, die Proxyserver und VPN-Tunnel betreiben, mit Prämien in Form von Bitcoins. Beide Techniken können dazu genutzt werden, die Herkunft ihrer Nutzer zu verschleiern und staatliche Netzsperren zu umgehen. "Ich nenne das digitalen Widerstand - eine dezentralisierte Bewegung, die sich weltweit für digitale Freiheit und Fortschritt einsetzt", erklärte Durow.

Und der Telegram-Entwickler geht noch weiter. Unter Berufung auf den 23. Artikel der russischen Konstitution, der das individuelle Recht auf anonyme Kommunikation garantiert, hat die Menschenrechtsorganisation Agora, deren Anwälte Durow vertreten, Einspruch gegen die Telegram-Sperre eingelegt. Damit wird die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, die Rechtmäßigkeit des Vorgehens gegen Telegram zu überprüfen. "Unabhängig davon werden wir den Kampf für Telegram in Russland weiterführen. Die Geschichte unserer Vorfahren hat uns gelehrt, bis zum siegreichen Ende zu kämpfen", heißt es in einem Post zum Tag des Sieges am 9. Mai.

In einem offenen Brief kritisieren derweil Roskomswoboda-Chef Kosljuk und über 50 internationale und russische Menschenrechtsorganisationen die Telegram-Sperre in Russland. Zur Wahrung der Menschenrechte und der Freiheit des Internets haben sie Onlinefirmen dazu aufgerufen, den Forderungen der russischen Behörden nicht nachzugeben, heißt es auf der Webseite der britischen Organisation "Article 19". Die Unterzeichner fordern die UN, die Europäische Union und die OSZE auf, die Aktionen der russischen Regierung zu behindern.

Wie der Ringkampf von Telegram-Gründer Durow und Roskomnadsor-Chef Scharow ausgeht, ist ungewiss. Fest steht, dass ihr Katz-und-Maus-Spiel zur massivsten Zensur in der Geschichte des Runets führte. Dabei geben die russischen Behörden um Scharow derzeit nicht die beste Figur ab. Denn den Schaden ihrer Zensurversuche tragen unbeteiligte Dritte, jeden Tag kommen weitere Störmeldungen aus dem ganzen Land dazu. Die Sperre betrifft offenbar auch den Kreml selbst. So mussten Mitarbeiter der Pressestelle zwischenzeitlich auf den Chatdienst ICQ zurückgreifen, um mit Journalisten kommunizieren zu können.

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