Seit sechs Wochen guckt Ruth Syren immer wieder, ob das Telefon auch wirklich funktioniert. Kaum eine Frau meldet sich, die sich beraten lassen will oder einen Platz im Frauenhaus braucht. "Zwei- oder dreimal hat eine Freundin einer betroffenen Frau angerufen, die sich Sorgen um jemanden machte", erinnert sich Ruth Syren. Aber wenn sich die betroffenen Frauen nicht selbst melden, können Ruth Syren und ihr Team nichts tun. "Es ist gespenstisch", sagt sie. "Wo sind all die Frauen?"
Ruth Syren leitet das Heckertstift in Mannheim, ein Frauenhaus mit Platz für 18 Frauen und 18 Kinder. Die genaue Adresse ist nicht bekannt, selbst die Frauen, die sich für den Weg ins Frauenhaus entscheiden, bekommen nur einen Treffpunkt genannt, von dem aus sie eine Mitarbeiterin ins Heckertstift bringt. Die Flucht ins Frauenhaus, oft heimlich und nur mit dem nötigsten Gepäck, ist für sie der allerletzte Ausweg. Die Frauen fliehen vor Bedrohung, vor Abhängigkeit, vor so massiver Gewalt, dass nur ein Ort, den sie selbst nicht kennen, Schutz bieten kann. Im vergangenen Jahr riefen bis Ende April 158 Frauen im Heckertstift an. Dieses Jahr waren es nur 81 Anfragen, die allermeisten Anrufe davon gingen in der Zeit vor Corona ein.
Gegen das Virus sind die eigenen vier Wände der sicherste Schutz. Doch was Gewalt betrifft, ist das eigene Zuhause statistisch gesehen für eine Frau der gefährlichste Ort. Jede vierte Frau muss mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner erleben. Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin. Häusliche Gewalt kommt überall vor, im Villenviertel und im Plattenbau, sie betrifft alle, genau wie das Virus. Als die Pandemie in Deutschland begann und die Beschränkungen des öffentlichen Lebens in Kraft traten, rechneten alle mit einem Anstieg der häuslichen Gewalt.
Seitdem es Ausgangsbeschränkungen gibt, kann man sich zu Hause nicht mehr so einfach aus dem Weg gehen, nicht mal eben eine Nacht bei einer Freundin schlafen. Wie soll eine Frau Hilfe rufen, wenn der Partner jedes Gespräch mitbekommt? Wie sollen andere sehen, dass etwas nicht stimmt, wenn man die Freundin, Kollegin oder Nachbarin schon seit Wochen nicht mehr trifft? Die Schulen sind geschlossen, die Arztpraxen überlastet und die Beratungsstellen können auch nicht mehr wie gewohnt arbeiten: Sie sind nur noch telefonisch und schriftlich erreichbar, können die Frauen nur noch mit Abstand und Mundschutz treffen.
Deshalb blieb es im März erst mal still. Anfang April, zwei Wochen nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen, meldete das nordrhein-westfälische Innenministerium: Die Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt seien in NRW um 30 Prozent zurückgegangen. Kein Experte schloss daraus, dass auch die Gewalt weniger geworden sei. Die Zahlen zeigen nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Nicht jedes Opfer ruft die Polizei oder gibt gar eine Anzeige auf. Längst nicht alle lassen sich beraten.
Weniger Anzeigen wegen häuslicher GewaltIn den Wochen darauf melden andere Bundesländer ihre Zahlen, teilweise nahm die Zahl der Einsätze im April zu. Nur wurde im Verhältnis dazu in einigen Städten seltener Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet. Thomas Broy arbeitet seit vielen Jahren im Bereich Opferschutz und Prävention beim Landeskriminalamt in Hamburg. Er sagt Ende April: "Wir haben in Hamburg spürbar weniger Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, aber nach wie vor gibt es weiter Einsätze." Ob es in Hamburg mehr oder weniger Einsätze wegen häuslicher Gewalt sind, kann er aktuell nicht sagen. Die Berliner Polizei nennt Ende April konkrete Zahlen: Von Beginn des Jahres bis zum 19. April sind die Einsätze wegen Gewaltverdacht in der Familie im Vergleich zum Vorjahr um 18,5 Prozent gestiegen. Die Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, ob vor Ort oder in Ruhe auf dem Revier aufgenommen, stiegen allerdings nur um fünf Prozent. Ebenfalls im April meldete das Bundeshilfetelefon für Gewalt gegen Frauen 17,5 Prozent mehr Anruferinnen, die Hilfe bei häuslicher Gewalt suchten, als zuvor.