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Die neuen Rentenlügen

Das neue Rentenpaket verschlingt Milliarden Euro. Doch die echten Probleme wird es nicht lösen, weil es an der Lebensrealität von Alten und Jungen vorbeigeht.

Von Christoph Koopmann und Cornelia Schmergal

An jedem Sonntag rollen sie über die platten Landstraßen des Ruhrgebiets: Heinz Brewe vorn, seine Frau Gertrud auf dem Sozius. Ihre Harley-Davidson, Modell Heritage, haben sie vor vier Jahren gekauft. Die Wahl fiel auf ein chromglänzendes Gefährt, das als Inbegriff amerikanischer Lebensart gilt.

Doch von den endlosen Weiten des Wilden Westens haben sie nie geträumt, auch nicht von einem Trip auf der Route 66. Die Brewes sind mit der B 60 zufrieden. Ihre Vorliebe für die Harley hat mit Hüfte und Rücken zu tun: Es muss ein Chopper sein, "ein Tiefflieger", wie Heinz Brewe sagt. "Da sitzt man bequemer. Und man kommt leichter rauf."

Heinz Brewe ist 79 Jahre alt, seine Frau Gertrud 75. Sie gehören zur glücklichen Rentnergeneration von heute, die sich im Alter etwas gönnen kann. Das Reihenhäuschen in Duisburg ist längst abbezahlt, in der Doppelgarage parkt neben der Harley ein kleiner Opel Corsa.

Für ihren bescheidenen Wohlstand haben die beiden hart geschuftet. "Wir haben Beiträge gezahlt, wir bekommen nichts geschenkt", sagt Heinz Brewe. 40 Jahre lang hat der Schlossermeister in die Rentenkasse eingezahlt, mehr als zwei Jahrzehnte davon verbrachte er in der Bauabteilung eines Stahlwerks. Seine Frau arbeitete halbtags, als das für Mütter im Westen noch ziemlich selten war. Was ihnen die Rentenkasse heute überweist, ist nicht üppig, aber auskömmlich. "Wir sind gesund, wir sind zufrieden", sagt Heinz Brewe.

Nur manchmal, wenn er an seine Tochter oder die jungen Familien in der Siedlung denkt, beschleicht ihn ein eigenartiges Gefühl. "Für die Jüngeren, da wird es später mal schwer", sagt er.

Und so stellt sich Heinz Brewe Fragen, wenn er abends die Nachrichten im Fernsehen sieht: Wie das mit der gesetzlichen Rente reichen soll, wenn die Kinder immer weniger werden und die Alten immer mehr? Wie die Jungen später von der Altersversorgung leben sollen, wenn sie nicht Vollzeit arbeiten oder nur wenig verdienen? "Mir macht das Sorgen", sagt Brewe. "Da muss man was tun."

Und es tut sich was. Am Donnerstag hat der Bundestag ein neues Rentenpaket beschlossen. Was im Januar in Kraft treten soll, ist ein Versprechen riesigen Ausmaßes. Es geht um Dutzende Paragrafen, um Rentenaufschläge für Mütter im Seniorenalter und ein Plus für kranke Frührentner, um einen neuen Steuertopf für das Rentensystem und weniger Beiträge für Geringverdiener. Vor allem aber geht es um eines: Das Rentenniveau soll nicht mehr sinken. Bis 2025 wird es auf dem heutigen Stand von 48 Prozent eingefroren, gleichzeitig soll der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen. Allein bis 2025 wird das Projekt nach Schätzungen 36 Milliarden Euro kosten. Und das ist erst der Anfang.

SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sprach im Bundestag von einem "grundlegenden Richtungswechsel" in der Rentenpolitik – eine beinahe zurückhaltende Formulierung. Das Paket der Großen Koalition bricht mit den Glaubenssätzen vorangegangener Reformen, die dafür sorgten, die Lasten für die Jüngeren zu begrenzen. Es ist der Beginn eines Paradigmenwechsels mit unabsehbaren Folgen.

Das neue Gesetz reicht nur bis in das Jahr 2025, über die Zeit danach soll eine Rentenkommission entscheiden. Unabhängig und "ohne Denkverbote", wie es ursprünglich hieß. Doch noch bevor sich die Experten zu ihrer ersten Klausurtagung trafen, forderte die SPD, das Sicherungsniveau gleich bis zum Jahr 2040 zu zementieren, und davon rückt die SPD nicht mehr ab. "Ein stabiles Rentenniveau ist die beste Versicherung gegen einen deutschen Trump", hatte Vizekanzler Olaf Scholz im August gesagt. Es war ein seltener Moment entwaffnender Ehrlichkeit in der Rentendebatte.

Gesucht ist nicht etwa ein Konzept für irgendetwas, sondern gegen etwas: die AfD. Populismus wollen die Volksparteien mit Populismus bekämpfen.

Schon im Juni hatte der völkisch-nationale Flügel um Björn Höcke für die AfD ein erstes ausformuliertes Rentenkonzept vorgelegt. Das 104-Seiten-Konvolut zeichnet ein Bild des Elends, es spricht von Armut, Scham und der "systematischen Zerstörung" der Rente. Dass große Teile der AfD deshalb ein Sicherungsniveau von 50 Prozent propagieren, treibt auch die SPD um. Nur die Linkspartei fordert mehr.

Tatsächlich treffen die Populisten einen Punkt. Der Gedanke an die Altersversorgung erschreckt viele Wähler, ihre Angst geht zurück auf das Jahr 2004. Auf die Alterung der Gesellschaft hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung mit einem Eingriff in die Rentenformel reagiert: Wächst die Zahl der Senioren stark, bremst das den Anstieg der Renten. Durch diesen Nachhaltigkeitsfaktor sollen künftige Generationen entlastet werden.

Bei den heutigen Senioren jedoch weckten die Reformen Ängste. Lag das Rentenniveau rechnerisch zuvor noch bei 53 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns, sank es bis heute auf 48 Prozent. Die Lücke müssen die Beschäftigten durch Betriebsrenten oder private Vorsorge schließen und bleiben oft ratlos zurück.

Sicher scheint nur der Abstieg im Alter. Für ihren Armuts- und Reichtumsbericht hat die Bundesregierung die Deutschen befragen lassen, welche Phase des Lebens die größte Armutsgefahr berge. 67 Prozent hielten das Risiko im Ruhestand für "sehr hoch" oder "hoch". Sehr hohe Armutsrisiken für junge Erwachsene vermuten dagegen nur neun Prozent.

Jedoch verhält es sich in Wahrheit genau andersherum. Nicht die Alten sind derzeit die Sorgenfälle in der Grundsicherung oder der Einkommensstatistik, sondern die Jüngeren: Alleinerziehende, Niedrigverdiener, Menschen mit Migrationshintergrund. "Die gefühlte Realität und die realen Daten passen nicht zusammen", sagt Ökonom Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum. "Heute ist die Lage der Älteren nicht besorgniserregend."

Doch die Rentendebatte geht seit Jahren vom Gegenteil aus. Sie stützt sich auf die weit verbreiteten Annahmen der Populisten: dass allein die gesetzliche Rente über den Lebensstandard im Alter entscheide. Dass man das Sicherungsniveau nur etwas anheben müsse, um allen Senioren ein würdigeres Dasein zu ermöglichen. Dass Altersarmut schon heute Massen von Senioren in die Verelendung stürze. Und dass die junge Generation selbst von einem höheren Rentenniveau profitieren werde, irgendwann.

Diese Thesen sind beliebt, sie halten sich in den großen Parteien, sie ziehen sich durch Talkshows und Bundestagsdebatten.

Aber keine davon ist ganz richtig.

Es ist an der Zeit, mit den irrigen Prämissen der Rentendebatte aufzuräumen. Nicht etwa, weil es in der gesetzlichen Alterssicherung keine Probleme gäbe. Sondern weil man sich um die wahren Missstände kümmern sollte.

Denn die Tragik der schwelenden Rentendebatte liegt nicht etwa in den Milliardenkosten. Eine gute Absicherung aller Senioren sollte einer Gesellschaft etwas wert sein. Die Tragik liegt darin, dass die Parteien derzeit weder die Probleme wirklich bedürftiger Rentner lösen noch eine belastbare Perspektive für die Jungen bieten.

Paare wie die Brewes jedenfalls gehören eher nicht zu den Sorgenfällen des Sozialsystems. Ihre Leidenschaft für die Harley-Davidson mag außergewöhnlich für ihr Alter sein. Ihr Einkommen ist es nicht.

Was Heinz und Gertrud Brewe im Monat ausgeben können, aus der gesetzlichen Rentenkasse und einer kleinen Betriebsrente, entspricht ungefähr dem Durchschnitt aller deutscher Senioren: Über insgesamt 2543 Euro netto im Monat verfügt ein Seniorenpaar laut Alterssicherungsbericht der Bunderregierung. "Unsere Ansprüche sind nicht hoch", sagt Heinz Brewe. "Andere Senioren fahren mit dem Kreuzfahrtschiff in die Karibik, wir fahren mit dem Motorrad an den Baldeneysee."

Es klingt paradox: Seit den rot-grünen Rentenreformen steigen die Renten etwas langsamer als die Löhne. Trotzdem können sich die Senioren seit acht Jahren in jedem Juli über einen Zuschlag freuen. Im Osten stiegen die Überweisungen aus der Rentenkasse im Schnitt um rund drei Prozent, im Westen um gut zwei Prozent. Im Juli 2019 steht die nächste Erhöhung um mehr als drei Prozent an, wie der neue, noch unveröffentlichte Rentenversicherungsbericht prophezeit.

Allein in diesem Sommer stieg Heinz Brewes Rente um etwa 50 Euro, die seiner Frau um rund 20 Euro. Es ist ein bescheidenes Plus, aber spürbar.

Schon in der Grundausstattung ist das Harley-Modell Heritage Softail ein Ereignis, an ihrem Motorrad haben die Brewes nicht gespart. Die Bremszüge aus schwarzem Kunststoff tauschten sie gegen silberfarbene Züge, die schwarzen Griffe gegen blitzende aus Chrom. Steigt Gertrud Brewe auf die Maschine, dann trägt sie eine Lederjacke mit glitzerndem Totenkopf auf dem Rücken. "Mein Prunkstück", wie sie sagt.

Wenn die Brewes an der Ampel anhalten, recken Autofahrer neben ihnen bewundernd die Daumen. "Vor allem die Älteren schauen rüber", sagt Heinz Brewe.

Vielleicht ist es eine Frage der Reife. Harley-Davidson-Käufer sind im Durchschnitt um die 50 Jahre alt. Bei Neuwagen oder Inlandsreisen stellen die Senioren längst die treuesten Kunden. Sie können es sich leisten. "Anders als früher gehören viele Senioren heute zur Mittelschicht", sagt Judith Niehues.

Vor einem Jahr hatte die Ökonomin eine viel beachtete Studie veröffentlicht. In den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich das Risiko der Älteren, von Armut bedroht zu sein, "deutlich verringert", hatte Niehues geschrieben. Was die Zeitungen als gute Nachricht feierten, störte das Empfinden einiger Senioren. "Sie haben da eine Bombe platzen lassen", wütete ein reiferer Herr am Telefon.

Die Studie warf viele Glaubenssätze der Rentendebatte über den Haufen, vor allem dass das Alter gleichbedeutend mit Armut sei. "Es ist nicht alles super bei den Älteren", sagt Niehues. "Aber in der Breite geht es den Senioren heute besser als noch vor 20 Jahren."

Die 36-jährige Ökonomin leitet die Forschungsgruppe Mikrodaten und Methodenentwicklung beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Sie berechnete, wie sich die Realeinkommen verschiedener Altersgruppen seit 1991 entwickelt haben. Das Ergebnis hat auch Niehues erstaunt: Viele Senioren sind im Vorteil. Die durchschnittlichen realen Nettoeinkommen, die den über 55-Jährigen in ihrem jeweiligen Haushalt zur Verfügung stehen, sind stärker gestiegen als die der bis 34-Jährigen (siehe Grafik Seite 33).

Niehues sieht dafür vor allem einen Grund: "Seit Mitte der Neunzigerjahre hat sich der Anteil der Single-Haushalte unter den Senioren verringert" – gegen den gesellschaftlichen Trend. Während immer mehr Jüngere teure Single-Wohnungen bezahlen oder ihre Kinder allein erziehen, leben die Älteren häufiger zu zweit. Es ist auch eine Frage der Zeitläufte: Der Zweite Weltkrieg hatte viele Frauen zu Witwen gemacht, die Zeit ihres Lebens allein zurechtkommen mussten. Heute werden Paare zusammen alt, meist haben sowohl Frauen als auch Männer eigene Beiträge gezahlt – und zwei Renten sind besser als eine, seien sie auch bescheiden.

Vor allem im Westen verfügen viele Senioren über Immobilien, Betriebsrenten oder Lebensversicherungen – abgeschlossen in Zeiten solider Wertzuwächse. Das Nettovermögen der 66- bis 70-Jährigen liegt mit durchschnittlich knapp 175.000 Euro weit über dem Mittelwert aller Erwachsenen (83.000 Euro).

Um gut situierte Kunden in reiferen Jahren buhlen Seniorenwohnanlagen wie die Rosenhof-Kette oder das Augustinum. Und die wenigen, die es sich leisten können, mieten sich in einer Tertianum-Residenz in München, Berlin oder Konstanz ein. "Unsere Bewohner sollen sich fühlen wie zu Hause und den Komfort eines Fünf-Sterne-Hotels genießen", sagt Marketing-Direktorin Anna Schingen.

Vor vier Jahren ist Gabriele Ronde in ihr Apartment im Münchner Tertianum gezogen. Ronde ist ihr Mädchenname. Welcher Name auf dem Klingelschild steht, soll hier nicht genannt werden. Darum hat sie gebeten.

Vom Balkon fällt ihr Blick in einen gepflegten Garten. An der Wand hängen Ölporträts der Urgroßeltern, in Gold gerahmt. Neben der Couch steckt ein Schalter in der Wand. "Notfall" steht darauf.

Gabriele Ronde ist in einem Alter, in dem dieser Alarmknopf wichtig werden könnte. Die elegante Dame im knallroten Jackett ist 92 Jahre alt. Gerade kommt sie vom Mittagessen zurück. "Das Essen ist hier immer ein Erlebnis", sagt Ronde.

Die Rezepte für die Senioren hat der Sternekoch Tim Raue erdacht, im Erdgeschoss der Residenz betreibt er seine Brasserie "Colette". Es gibt nur eine Küche: Nach links tragen die Kellner die Teller mit Austern "Fines de claire" ins Raue-Etablissement, nach rechts die Teller mit Kabeljau in das Seniorenrestaurant.

Das Tertianum ist ein Haus für Menschen, die vom Alter nicht weniger erwarten als von den Lebensphasen davor. "Ich fühle mich gut aufgehoben hier", sagt Gabriele Ronde. Vor der Geburt ihrer Kinder hat die promovierte Biologin erforscht, wie sich eine veränderte Umwelt auf Waldböden auswirken. Im Schlafzimmer bewahrt sie die Tagebücher auf, die sie in Marokko oder Spanien auf Reisen mit ihrem Mann schrieb, der vor zwei Jahren starb. Heute schätzt Gabriele Ronde vor allem den Umstand, dass sie das Haus nicht mehr verlassen muss, wenn sie ein Konzert besuchen will. An diesem Oktobertag steht ein Balalaika-Abend im Roten Salon auf dem Programm.

Gabriele Ronde lebt in der kleinsten Wohnung des Tertianums. Rund 3600 Euro im Monat kostet das "Residenzentgelt" für ihr 55-Quadratmeter-Reich – inklusive Drei-Gang-Menü, Kulturprogramm, Conciergedienst und ambulanter Pflege im Notfall. Allein mit den 1100 Euro, die ihr die Rentenkasse aus eigenen Beiträgen überweist, dazu eine Witwenrente, wäre das Domizil unerschwinglich.

Um ihr Apartment zu finanzieren, hat Gabriele Ronde einen Strich unter ihr altes Leben gezogen. Die Lebensversicherung eingesetzt, die Eigentumswohnung vermietet, den kleinen Mercedes abgestoßen. "In meinem Leben bin ich oft umgezogen", sagt sie, "mir fällt jeder Neuanfang leicht."

Auch finanziell ist für Gabriele Ronde leicht, was für andere Rentner unerreichbar wäre. Die Generation der Alten ist finanziell höchst unterschiedlich gestellt. Ganz oben finden sich die üppig versorgten Senioren, die sich ein Apartment im Tertianum oder Luxuskreuzfahrten leisten könnten: vermögende Rentner, Erben, Unternehmer oder Beamte, die nie oder nur kurz in das gesetzliche Sozialsystem eingezahlt haben und sich im Alter über eine vergleichsweise üppige Pension freuen, die leicht das Doppelte einer gesetzlichen Standardrente ausmacht.

Ganz unten dagegen sammeln sich alle Senioren, die mit einer winzigen gesetzlichen Rente auskommen müssen – und nur mit dieser. Menschen, die ihr Leben lang mit kleinen Löhnen rangen, mit Auszeiten, Arbeitslosigkeit oder dem Wandel der Zeiten. Menschen wie Eberhard Heinig.

Die Wende habe sein Leben "über den Haufen geworfen", sagt der 77-Jährige mit dem weißen Bart. Seit dem Mauerfall hat er sich mehrmals neu erfunden.

Als es die DDR noch gab, war Heinig als Industrieformgestalter gefragt. Fachzeitschriften berichten noch heute über seine progressiven Designs, die Hefte stapelt Heinig auf dem Wohnzimmertisch. An seinem Reißbrett entwickelte er ein Wechselheck für den Wartburg, er entwarf Modelle für Schaufelradbagger und Straßenkehrmaschinen, zusammenklappbare Campinganhänger und Plaste-Kinderwagen. Heinig war einer der wenigen Selbstständigen im sozialistischen Staat, in die Rentenkasse zahlte er nur den Mindestbeitrag ein. Im Alter, so glaubte er, werde das Geld schon irgendwie reichen.

Doch mit der DDR gingen seine Auftraggeber unter, mit den Aufträgen auch seine Erfahrungsschätze. Heinig war arbeitslos, drei Jahre lang, aber er kämpfte. Er ließ sich umschulen, tastete sich an Computergrafik-Programme heran und eröffnete in Berlin ein Geschäft für Solartechnik – bis die Ladenmieten im Szene-Stadtteil Prenzlauer Berg seine mageren Einnahmen auffraßen. Und Heinig begann noch einmal von vorn. Am Ende seines Arbeitslebens fegte er als Hausmeister Kirchenhöfe.

Heute erhält Heinig kaum 800 Euro Rente, manchmal hilft er als Spülkraft im Kindergarten aus. "Dass ich es noch vom Tellerwäscher zum Millionär schaffe, glaube ich nicht mehr", sagt er. Er kommt über die Runden, weil seine kleine Wohnung günstig ist und er sich Brot vom Vortag bei einer Ausgabestelle für Bedürftige holt. Heinig bindet sich dann die rote Schürze mit dem "Laib und Seele"-Schriftzug um und schleppt als Helfer auch selbst Gemüsekisten. Weil es sich besser anfühlt.

Was im Rentensystem schiefläuft, darüber hat er lange nachgedacht. Und er hätte da einen Vorschlag: "Das ist doch Unsinn, wenn für alle das Rentenniveau steigen soll, für die Armen und die Reichen. Viel besser wäre es, wenn man nur die kleinen Renten aufstockt. Für die, die wirklich drauf angewiesen sind."

Viele Ökonomen würden Heinig recht geben: Erhöht man das Rentenniveau pauschal, steigert das zwar die Akzeptanz des Sozialsystems bei Gut- oder Normalverdienern. Es gehe um eine "Signalfunktion" für die Legitimation der Rentenkasse, sagte etwa der Ökonom Gerhard Bäcker von der Universität Duisburg bei einer Anhörung im Bundestag. Wer auskömmliche Rentenansprüche hat, der kann sie vielleicht sogar spürbar steigern – denn je höher die Rente, desto stärker profitieren die Senioren vom höheren Niveau. Heinz Brewe würde das nützen oder auch Gabriele Ronde und ihren Nachbarinnen.

Gegen echte Not richtet man damit aber wenig aus. Ein höheres Rentenniveau sei "kein Allheilmittel für die Bekämpfung von Altersarmut", sagt die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung, Gundula Roßbach. Minirenten werden Minirenten bleiben. Und steigen sie doch, müssen die besonders Bedürftigen sie mit der Stütze vom Amt verrechnen – genau wie jeden Nachschlag bei der Mütterrente. Drei Prozent der Altersrentner sind heute auf die staatliche Grundsicherung angewiesen, weil ihnen Beitragsjahre fehlen oder weil ihr Lohn schlicht mickrig war. Noch ist ihre Zahl überschaubar. Aber jeder Fall ist einer zu viel.

Eberhard Heinig würde vom höheren Rentenniveau kaum profitieren, ebenso wenig wie die anderen Rentner, die an jedem Donnerstag eine Wartenummer aus einer Losschüssel ziehen, um Gemüse oder Joghurt im kühlen Foyer der Evangelischen Kirchengemeinde Prenzlauer Berg zu holen.

Da wäre Frau Janke, 74 Jahre alt, Losnummer 39, eine Kinderspange in das weiße Haar geschoben, eine gelernte Weberin, die ihre letzten Berufsjahre als Pflegekraft verbracht hat und heute kaum 700 Euro Rente bekommt. Oder Herr Hähme, 68 Jahre alt, Losnummer 5, dem nach einem halben Leben als Möbelpacker das Sozialamt die Miete zahlen muss.

Seit beinahe zehn Jahren ringen die Parteien in Berlin um einen Weg, kleine Renten aufzustocken. Sie verstrickten sich in den Details von Konzepten, die klingende Namen trugen wie Zuschussrente, Lebensleistungsrente, Solidarrente oder Garantierente. Bis heute gibt es dazu kein Gesetz. Auch im neuen Rentenpaket fehlt das Projekt, obwohl die "Grundrente", wie sie inzwischen heißen soll, seit März im Koalitionsvertrag steht.

Um Armut zu bekämpfen, beschränkt sich die Koalition darauf, die mageren Renten von Menschen anzuheben, die eine Krankheit aus dem Arbeitsleben zwang. Und schon dabei springen Union und SPD sehr kurz, weil nur künftige Rentner von den Verbesserungen profitieren, verarmte Erwerbsgeminderte von heute aber leer ausgehen. Erleichterungen für alle anderen Kleinstrentner dagegen vertagten Union und SPD auf die Zukunft: Frühestens im Sommer 2019 könnten sie beschlossen werden. Falls die Koalition so lange hält.

Sigmar Gabriel zählt zu jenen Politikern, die ihre Meinungen zwar oft wechseln, aber ein unbestechliches Gespür für Stimmungen haben. Schon Anfang 2016 hatte er, damals noch als SPD-Chef, eine Mindestrente für Geringverdiener gefordert. Auch in der eigenen Partei stieß er damit auf Widerstand. Bis heute hält er die Ablehnung für einen großen Fehler. "Ich begegne vielen Menschen, die 40 Jahre und mehr Vollzeit gearbeitet haben und mit deutlich weniger als 1000 Euro netto nach Hause gehen werden, vor allem in Ostdeutschland und dort, wo wenig verdient wurde", sagt er. "Da laufen uns die Leute in Scharen davon."

Gabriel plädiert daher für eine leicht verständliche Mindestrente, auch im Jahr 2018 gilt das noch. "Wir brauchen ein einfaches Modell, das die Leute sofort verstehen", sagt er. Wer mehr als 40 Jahre Vollzeit gearbeitet habe, solle im Alter mindestens 1000 Euro Rente haben. "Ich befürchte jedoch, dass die Koalition am Ende nur ein kompliziertes Modell beschließt, das viele Ausnahmen kennt und das niemand versteht."

Man kann über die Details des Vorschlags streiten. Aber im Grundsatz kritisieren auch die meisten Sozialexperten, dass es klüger gewesen wäre, zuerst ein Konzept für die wirklich Bedürftigen auf den Weg zu bringen – statt sich in der Niveaudebatte zu verheddern. Dabei geht es um die politische Glaubwürdigkeit.

Die Rentengleichung für die ferne Zukunft beruht auf vielen unvorhersehbaren Parametern: Wie es mit der Konjunktur weitergeht. Ob der Arbeitsmarkt stabil bleibt. Wie viele Zuwanderer ins Land kommen. Nur eine einzige Zahl steht schon heute fest: die der zukünftigen Senioren. Wie viele Menschen im Jahr 2025, 2030 oder 2040 in den Ruhestand gehen, lässt sich an der Bevölkerungsstatistik ablesen. Doch diese Daten werden in der Rentendebatte gern ignoriert.

Ausgerechnet jetzt, da bald die Babyboomer mit den Geburtsjahren 1955 bis 1968 in den Ruhestand drängen und die Zahl der Rentenbezieher rasant steigen wird, wollen Union und SPD das Nachhaltigkeitsversprechen aus der Rentenformel tilgen.

Noch im September warnte ein Mitglied der Rentenkommission die Unions-Bundestagsfraktion davor, die Sozialkasse zu überfordern. Axel Börsch-Supan, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, präsentierte den Abgeordneten auf einer internen Klausur bedrückende Charts zur Alterung des Landes. Das Wesentliche lässt sich an einem Zeitstrahl ablesen: Ganz links, wo sich die Siebziger- und Achtzigerjahre verorten, hat Börsch-Supan "Viele Junge" notiert. Ganz rechts, in der Zukunft, steht in Fettdruck "Viele Alte"."

Heute, im Jahr 2018, kommen drei unter 65-Jährige auf einen Alten. Im Jahr 2035 werden es nur noch zwei Jüngere pro Senior sein. Auf die junge Generation kommen damit hohe Lasten zu. Schon ohne das neue Rentenpaket.

Allerdings wehren sich die Koalitionäre gegen den Vorwurf, sie würden die Jungen mit dem neuen Gesetz belasten. Das Gegenteil sei der Fall. Die junge Generation werde selbst einmal vom höheren Rentenniveau profitieren, lautet die Sprachregelung bei Union und SPD. Und vielleicht ist dies die verunglückteste aller Thesen.

"Das ist eine elegant verpackte Formulierung für: Die Jungen dürfen zahlen", sagt Verteilungsforscher Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.

Der Ökonom neigt nicht zu Alarmismus in der Rentenfrage, im Gegenteil. An einen Verteilungskampf zwischen Alt und Jung will Grabka nicht glauben. Die Sache sei viel komplizierter, sagt er. Jede Generation sei gespalten, in jeder gebe es Ungerechtigkeiten, in jeder ein Oben und ein Unten. Jede Altersgruppe trage ihre eigene Bürde: Bei den Alten war es der Krieg, bei den Babyboomern die Ölkrise, bei den Jüngeren ein Arbeitsmarkt, der maximale Flexibilität einfordert.

Allerdings gibt es einen Trend, der Grabka nachdenklich macht: Wer in den Sechzigerjahren zur Welt kam, für den lag das Armutsrisiko im Alter von 30 bei etwa 10 Prozent. Für die in den Achtzigerjahren Geborenen lag das Risiko im gleichen Alter jedoch bereits bei 23 Prozent. "Je jünger die Alterskohorte, desto größer das Armutsrisiko", hat Grabka in einer Studie geschrieben.

Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt zu dem Ergebnis, dass die Lohnungleichheit zwischen Jung und Alt zunimmt. Die Jungen haben es also heute schwerer als ihre Eltern, ein gutes Einkommen zu erzielen. Und damit fällt möglicherweise auch ihre Rente später dürftig aus.

Falls David Szubotics sich im Jahr 2057 zur Ruhe setzt, darf er mit 775,47 Euro im Monat rechnen. So steht es auf seiner Renteninformation. "Wenn ich das sehe", sagt Szubotics, "könnte ich froh sein, wenn ich den Löffel abgebe, bevor ich in Rente gehe."

Bei den meisten Älteren kann man sich die Erwerbsbiografie wie einen langen Roman vorstellen: Ausbildung, erster Job, unbefristeter Vertrag, Rente. Szubotics ist 28 Jahre alt, und bei ihm sind es jetzt schon viele Kurzgeschichten: Realschulabschluss, Ausbildung zum Koch, danach ein Jahresvertrag nach dem anderen, selten für mehr als 1200 Euro brutto im Monat. Um über die Runden zu kommen, hat Szubotics im Urlaub etwas Geld mit Fotos für Musikmagazine dazuverdient.

Seit zwei Jahren fotografiert er hauptberuflich. Für die Website des Modeversands Zalando lichtet er in Erfurt Schuhe oder Shirts ab und stylt Models. Es ist der erste unbefristete Vertrag in seinem Leben. Doch perfekt ist er nicht. Szubotics verdient monatlich 1850 Euro brutto, netto bleiben 1310 Euro. In seinem Kleiderschrank hängen vier Kapuzenjacken und drei Hosen. Mehr braucht er nicht. Mehr geht aber auch nicht. Um für höhere Löhne zu kämpfen, ist Szubotics in die Gewerkschaft Ver.di eingetreten.

Er würde gern sparen, eine Vespa wäre sein "Traum", oder etwas für die Zukunft zurücklegen. Doch an eine private Altersvorsorge sei im Moment nicht zu denken, sagt er, "dann käme ich am Monatsende bei null raus".

Sein Nettolohn könnte irgendwann noch etwas schrumpfen. Ohne das neue Gesetz wäre der Rentenbeitragssatz im Januar von derzeit 18,6 auf 18,2 Prozent gesunken, rechnet die Rentenkasse vor. Nun bleibt er erst einmal, wo er ist – und wird spätestens im Jahr 2025 auf die neue Obergrenze von 20 Prozent steigen. Und auch das ist nur zu halten, wenn die Regierung zusätzlich Steuermilliarden einsetzt. Schon heute fließen jährlich 94 Milliarden Euro in die Rentenkasse, das ist der größte Posten des Bundeshaushalts. Geld, das für Zukunftsprojekte fehlt.

Der Effekt des Rentenpakets ist damit klar, rechnet Ökonom Werding von der Ruhr-Universität Bochum vor: "Wer heute schon alt ist, bekommt über die verbleibende Lebenszeit mehr ausgezahlt. Den Jungen dagegen nehmen wir effektiv Geld ab – und es ist unklar, ob sie später selber tatsächlich etwas davon haben." In den nächsten Jahren werde der Druck auf die Sozialkassen stark zunehmen. "Im schlimmsten Fall", sagt Werding, "droht irgendwann die völlige Überforderung des Rentensystems." Enttäuschte Erwartungen aber seien eine politische Gefahr.

Dabei gäbe es einen Weg, stabile Renten für die Zukunft zu versprechen, ohne nur Beiträge oder Steuern zu erhöhen. Es wäre ein politisches Wagnis: ein höheres Rentenalter. Würden alle etwas länger im Beruf bleiben, wäre das ein Hebel, um die Lasten der Alterung gerechter über alle Generationen zu verteilen.

Als das Umlageverfahren im Jahr 1957 eingeführt wurde, profitierten die Versicherten im Schnitt kaum 10 Jahre von ihrer Rente. Heute sind es fast 20. Wenn die Menschen aber mehr gute Jahre gewinnen, könnten sie einen Teil davon in ihr Erwerbsleben investieren. Die fünf Wirtschaftsweisen fordern das in ihrem Jahresgutachten, das sie am Mittwoch vorstellten. Auch Unionsfraktionsvize Hermann Gröhe sagte am Donnerstag, es dürfe keine "Denkverbote" geben.

Die Lasten der Alterung ließen sich ein Stück ausgleichen, wenn die Menschen in einigen Jahren nicht bis 67, sondern bis 68, 69 oder irgendwann vielleicht sogar bis 70 arbeiten würden. Damit gäbe es mehr Beitragzahler und weniger Rentner – und die Überweisungen aus der Rentenkasse würden automatisch steigen. In der Praxis wäre das ein großes Projekt, das lebenslanges Lernen erfordern würde und Unterstützung für alle, die eine Krankheit früher aus dem Arbeitsleben drängt. Es wäre aufwendig. Aber möglich. Allerdings bröckelt das Tabu erst langsam. Auch das ist dem Populismus in der Rentendebatte geschuldet.

Dabei fühlen sich viele Junge schon heute gebeutelt, weil sie an politische Versprechen nicht glauben und nicht wissen, ob es noch Alternativen zur gesetzlichen Rente gibt. Das gilt auch für Eva Widl, 31, und ihren Mann Hannes, 28. Ihr gemeinsames Leben muss im Moment auf 54 Quadratmeter passen. Zwei Zimmer, kleine Küche, noch kleineres Bad. Die Wohnung gehört Eva Widls Eltern, die sich vor 20 Jahren eine Immobilie leisten konnten.

Im August haben Eva und Hannes geheiratet. Von der Wohnzimmerlampe baumelt eine silberne "Just married"-Girlande, auf dem Parkettboden liegt ein roter Ziegelstein. "Fürs Haisl" steht darauf, das Hochzeitsgeschenk eines Onkels. Das eigene Haus, so dachten auch Eva und Hannes Widl, solle einmal der Grundstein ihrer Altersvorsorge sein.

Seit drei Jahren suchen sie nach einem Haus in der Gegend um Erding, rund 40 Kilometer nordöstlich von München. Platz für ein oder zwei Kinder soll es haben, dazu vielleicht noch für eine Werkstatt. "Aber zwischenzeitlich", sagt Hannes Widl, "geht mir wirklich die Motivation flöten." Die Häuser im Speckgürtel Münchens sind, wie fast überall in den begehrten Lagen, in den vergangenen Jahren so teuer geworden, dass das Paar sich mit einem Kauf ruinieren würde.

Dabei verdienen die Widls vergleichsweise gut. Sie arbeitet als Jugendseelsorgerin beim Erzbistum München und Freising, er lässt sich als Schreinermeister zum Berufsschullehrer weiterbilden. Zusammen dürfen sie nach heutigem Stand im Alter mit 2854,13 Euro Rente rechnen. Das klingt nicht wenig, aber auch nicht beruhigend.

Auf die Rente allein wollen sie sich nicht verlassen. Ein eigenes Haus würde Sicherheit geben, ist jedoch nicht in Sicht. Und wie die Widls anders sparen könnten – diese Frage lässt sie ratlos zurück. Die kleine Riesterrente jedenfalls wird im Alter kein Ersatz sein. "So gut wie es unsere Eltern im Alter haben, wird es uns später nicht gehen", sagt Eva Widl.

Für mehr Verlässlichkeit und Gerechtigkeit über alle Generationen brauchte es wenige Schritte. Das Versprechen, die Renten von Geringverdienern verlässlich anzuheben und Rentenerhöhungen nicht auf die Grundsicherung anzurechnen. Die ehrliche Debatte darüber, ob eine längere Lebensarbeitszeit ein Weg für mehr Nachhaltigkeit sein kann. Und ein pragmatisches Konzept für eine zusätzliche, staatlich geförderte Vorsorge.

All dies wird seit Jahren debattiert. Nichts davon findet sich im Rentenpaket. Und so hat die Bundesregierung das Kunststück vollbracht, mit einem Gesetz maximale Ausgaben zu provozieren und nur minimales Vertrauen zu schaffen.

Die Widls jedenfalls haben ihre ganz eigenen Schlüsse gezogen. Auf Gesetze aus Berlin werden sie nicht warten. Hannes Widl will auf einem anderen Weg für das Alter vorsorgen: Im nächsten Sommer endet seine Weiterbildung zum Berufsschullehrer.

Wenn alles gut geht, wird er Beamter. Es wäre sein Abschied aus der gesetzlichen Rentenkasse.