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Der Logistikbranche droht der Kollaps

Lkw-Fahrer arbeiten unter miserablen Bedingungen - vor allem an Großlagern. Deshalb will kaum noch jemand den Job machen. Neue Regeln sollen das ändern.

Von Christoph Koopmann

Zwischen den 15 Meter hohen Regalen der riesigen Lagerhalle in Großbeeren am südlichen Zipfel Berlins gibt es an diesem Morgen ein Problem. Lkw-Fahrer Ingo Bernhardt hat Getränke angeliefert, doch auf einer Palette stehen Dosen mit zwei Geschmacksrichtungen, Whiskey-Lime-Splash und Whiskey-Cola, quer durcheinander. "Was soll das?", blafft ihn ein Lagerarbeiter an. "Entweder du sortierst das auseinander, oder du kannst alles gleich wieder mitnehmen."

Bernhardt seufzt, dann schichtet er die Dosen um, 792 Stück in Sechserpacks gebündelt, bis alles sortenrein gestapelt ist. Alles wieder einzuladen ist keine Option. Er braucht den Platz im Lkw, am Nachmittag soll er zwei andere Lager in der Nähe Berlins anfahren und am nächsten Tag Plastikmüll zu einem Recyclinghof nach Bayern bringen.

Bernhardt, Mittfünfziger mit akkurat gestutztem Vollbart, Jeans und blauer Softshelljacke, ist seit 13 Jahren Kraftfahrer. Selten arbeitet er weniger als 65 Stunden pro Woche. Er übernachtet von Montag bis Freitag auf der Pritsche im Fahrerhaus des Lkw. Mit einem Nettogehalt von knapp 2300 Euro ist er einer der Spitzenverdiener seiner Branche.

Die Arbeitsbedingungen auf deutschen Straßen sind schlecht. Das EU-Parlament hat erst vor ein paar Tagen ein Maßnahmenpaket verabschiedet, das Verbesserungen verspricht, vor allem für Fahrer, die außerhalb ihres Heimatlands unterwegs sind. An einem Punkt aber werden auch die neuen EU-Regeln nichts ändern, wenn die Mitgliedstaaten ihnen denn überhaupt zustimmen: Fragt man Fahrer wie Bernhardt, was sie am meisten an ihrer Arbeit stört, dann nennen sie häufig die Zustände an den Laderampen, an denen sie ihre Ware abliefern. In einer Befragung des Bundesamts für Güterverkehr unter 778 Fahrern im Jahr 2017 beschwerte sich ein Großteil von ihnen über ungeklärte Zuständigkeiten, schlechten Informationsfluss und lange Wartezeiten.

»Wenn sich nicht bald etwas ändert, verlieren wir den Titel Logistikweltmeister.«

Noch vor zehn Jahren habe es an vielen Lagern Personal gegeben, das die Ware auslud, sagt Bernhardt. Mittlerweile muss er alles allein erledigen, oft nach stundenlangem Warten. Häufig kann er sich in den Lagern nicht einmal in einen Aufenthaltsraum setzen oder auf die Toilette gehen.

Zwei Kollegen Bernhardts hätten vor Kurzem gekündigt, weil sie diese Bedingungen nicht mehr ertrugen, sagt sein Chef, der Spediteur Georg Dettendorfer. Andere weigerten sich, bestimmte Kunden zu beliefern, so schlechte Erfahrungen hätten sie gemacht.

Er konnte nicht länger tatenlos zusehen, wie es Lagerbetreiber und Politik seiner Ansicht nach über Jahre taten. Deshalb hat er sich nun gemeinsam mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), dessen Verkehrsausschuss er leitet, selbst ein Regelwerk ausgedacht, mit dem einiges besser werden könnte.

Dettendorfer ist Familienunternehmer, ein Bayer, der auch beruflich gern seinen waldgrünen Trachtenjanker trägt und stolz ist auf seine Sammlung von Modell-Lkw mit dem Firmenaufdruck. 1825 gegründet, hat das Transportunternehmen heute mehr als  200 Zugmaschinen, fast 600 Mitarbeiter an zwölf Standorten in Europa und einen Jahresumsatz von mehr als 250 Millionen Euro. In Nußdorf, keine fünf Kilometer von der Grenze zu Österreich entfernt, blickt Georg Dettendorfer durch die Fensterfront seines Büros links auf den Inn und rechts auf die Autobahn 93, die Deutschland und Österreich verbindet - und das Familienunternehmen auch künftig am Leben halten soll.

"Wir in Deutschland sind Logistikweltmeister", sagt er. "Aber wenn sich nicht bald etwas ändert, verlieren wir diesen Titel" - und womöglich immer mehr Fahrer. Die neun "Goldenen Rampenregeln", die er gemeinsam mit dem DIHK aufgestellt hat, sollen ihren Teil beitragen. Für Dettendorfer sind sie nicht weniger als eine Art Charta zur Rettung des Transportgewerbes. Denn knapp ein Drittel der 565.000 Lkw-Fahrer in Deutschland geht bis 2030 in Rente, nicht einmal drei Prozent der Kraftfahrer sind jünger als 25. Bessere Bedingungen an den Laderampen würden "einen Beitrag zur Linderung des Fahrermangels" leisten, heißt es in dem Papier, das kürzlich veröffentlicht wurde.

Es müsse an jedem Logistikzentrum genügend Rampen und Lageristen geben, um alle Lkw schnellstmöglich abzufertigen, schreibt der DIHK. Er fordert zudem mehr Parkplätze und ausreichend viele Tauschpaletten für jede Lieferung. Außerdem sollten die Lagerbetreiber Informationen schneller weiterreichen. Für die vielen ausländischen Fahrer sollte es Ansprechpartner mit Fremdsprachenkenntnissen geben. Im Idealfall sollen sich die Fahrer wieder auf ihr Kerngeschäft konzentrieren können, wenn es an den Lagern wieder eigene Mitarbeiter für die Entladung gibt. "Das sind relativ einfache Regeln, die aber viel bewirken können", sagt Dettendorfer. Und den großen Supermarktketten, die sie vor allem betreffen würden, täten sie nicht sonderlich weh, meint er.

»Bald wird keiner mehr in dem Beruf arbeiten wollen.«

Die Lagerbetreiber sind sich der Probleme zwar grundsätzlich bewusst, sehen die Schuld allerdings oftmals nicht bei sich selbst. Dass es an den Lagern kein eigenes Personal zum Entladen gebe, sei Ergebnis "der geübten, langjährigen Praxis", schreibt die REWE Group, zu der auch Penny gehört und die 31 Lager in der Republik betreibt, auf Anfrage. Dass die Fahrer so lang warten müssen, liege nicht etwa an mangelnden Kapazitäten am Lager, sondern daran, dass sie "leider in einem nicht unbedeutenden Anteil die gebuchten Zeitfenster nicht wahrnehmen und zu spät kommen". Der Lebensmittelgroßhandel Metro, vor dessen Lager in Altlandsberg nordöstlich von Berlin an diesem Tag Dutzende Lkw den frühen Abend in der Warteschlange verbringen, schreibt, längere Wartezeiten kämen nur in "Einzelfällen" vor.

Bei der Ausarbeitung der Rampenregeln hätten alle relevanten Akteure ihre Interessen einbringen können, sagt der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks. "Die aus der Praxis entwickelten Regeln nutzen allen Beteiligten: den Verladern, den Waren-Empfängern, den Transportunternehmern, den Fahrern und der Umwelt."

Das hofft auch Willy Schnieders. 38 Jahre lang war er selbst als Lkw-Fahrer in Europa unterwegs. Heute kämpft er vom niedersächsischen Emstek aus für die Rechte seiner ehemaligen Kollegen. Er führt die kleine Kraftfahrergewerkschaft KFG. "Wenn das an den Laderampen so weitergeht, dann wird bald keiner mehr in dem Beruf arbeiten wollen", sagt er. Deshalb sei er froh, dass sich endlich etwas tue. Doch er ist skeptisch, ob die Regeln auch wirklich zuverlässig von allen beachtet würden.

Wenn die Bedingungen sich nicht bald entscheidend bessern, kann sich Ingo Bernhardt nicht vorstellen, bis zur Rente weiter Lkw zu fahren. Er hat den Stillstand satt, der ihn am dritten Großlager, das er an diesem Tag anfährt, buchstäblich tatenlos zurücklässt. Zwei Stunden und sechs Minuten dauert es, bis endlich das Handy klingelt, das man Bernhardt bei der Anmeldung in die Hand gedrückt hat. Endlich kann er entladen. Nur ist es mittlerweile so spät geworden, dass er danach nicht einmal mehr die 800 Meter bis zum nächsten Rasthof fahren darf. Um 2.00 Uhr am Morgen war er in Mannheim aufgebrochen, nun ist die gesetzlich vorgeschriebene Schichtzeit von maximal 15 Stunden abgelaufen. Dann schläft er eben auf dem Parkplatz vor dem Lager. Nichts Neues für Bernhardt.