Weiterführung einer Geschichte aus dem März 2018, mit erneuter Einbindung von meiner Bilder und meines Videos.
Die EU streitet weiter über die Verteilung von Flüchtlingen, während Familien auf dem Kontinent in verschiedenen Ländern leben und nicht zueinanderkommen. Auf dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche hat Deutschland zugesagt, offene Fälle von Familienzusammenführungen schrittweise abzuarbeiten. Für vier afghanische Flüchtlinge bedeutet das, sie können wenigstens wieder hoffen.
Eine von ihnen ist Fahima, die vor fast vier Monaten ihre Kinder verloren hat. Alle vier ertranken neben ihr im Meer. Das Boot, mit dem sie von der türkischen Küste auf die kleine griechische Insel Agathonisi übersetzen wollten, sank in den kalten Fluten der Ägäis. Fahima ist eine von nur drei Passagieren, die den Schiffbruch überlebt haben. Dabei hätten auch die 16 anderen, darunter 9 Kinder, wohl gerettet werden können.
Fahima trauert über den Tod ihrer Kinder. Zwar musste sie nicht im überfüllten Flüchtlingslager auf der Insel Samos bleiben, sondern durfte nach Athen weiterreisen, aber seit dem Unglück hat die Afghanin alle Lebensfreude verloren. Nur zwei Dinge halten sie am Leben, sagt Fahima: Gerechtigkeit für die Toten. Und die Aussicht darauf, mit ihrer Familie in Deutschland vereint zu werden.
"Dann wären meine Kinder nicht ganz umsonst gestorben"
"Zwölf Stunden trieben meine Kinder und ich im Meer. Niemand ist gekommen, um uns zu retten", erzählt sie immer wieder. Sie will eine Erklärung dafür, warum die Küstenwache nicht zu Hilfe eilte. "Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wird das vielleicht dafür sorgen, dass dieses Leid anderen Familien erspart bleibt. Dann wären meine Kinder nicht ganz umsonst gestorben."
Eine SPIEGEL-Recherche auf Samos kurz nach dem Unglück hatte ergeben, dass die griechischen Behörden unmittelbar nach dem Schiffbruch informiert worden waren. Fahimas Neffe Darab hatte die Küstenwache alarmiert - aber sie kam nicht. Darab hatte die Überfahrt schon einige Wochen vorher unternommen und wartete im Flüchtlingslager auf Samos auf die Ankunft seiner Tante.
Am 16. März verfolgte er per Live Location in der Smartphone-App WhatsApp den Weg des Bootes und den plötzlichen Stopp, mehrere Meilen von der rettenden Küste entfernt. Per Notruf meldete er sich bei der Küstenwache, schickte die letzten Koordinaten des Bootes, aber die Küstenwache startete erst einen Tag später eine Rettungsaktion.
In dem Fall wird nun von zwei Seiten ermittelt. Zum einen untersucht die griechische Staatsanwaltschaft die Umstände des Schiffbruchs. Zum anderen ermittelt die Dienstaufsicht des griechischen Schifffahrtsministeriums, ob die Küstenwache versagt hat. Die Überlebenden haben Strafanzeige gegen die Küstenwache gestellt, auch einer der Autoren dieses Berichts wurde als Zeuge befragt.
Der einzige Wunsch: Zur Familie nach Deutschland
Fahima ist jetzt in einer kleinen Wohnung in einem Arbeiterstadtteil von Athen untergebracht, noch übernimmt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Miete. Bei ihr leben ihre Schwester Zarghona und deren Kinder Darab und Mariam, 25 und 17 Jahre alt, die schon im Februar nach Griechenland gekommen sind. Jeden Monat kommt einer der Angehörigen aus Deutschland zu Besuch.
Der einzige Wunsch der vier Flüchtlinge: wieder mit ihrer Familie vereint zu werden, die Angehörigen leben in Paderborn und Düsseldorf, einige schon seit Jahrzehnten. Fahima hat zwei Brüder und eine Schwester in Deutschland, Darab zwei ältere Brüder. Ob sie einreisen dürfen, ist aber mehr als ungewiss, gerade in der derzeitigen aufgeheizten Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen in Europa.
"Sie sind verletzt und traumatisiert", sagt Natassa Strachini, Anwältin der griechischen Flüchtlingshilfeorganisation RSA, die das Unglück vom März ausführlich dokumentiert hat. "In Deutschland haben sie ein stabiles Umfeld und Unterstützung durch ihre Angehörigen, das brauchen sie." RSA hat den Flüchtlingen psychologische Hilfe und einen Rechtsbeistand organisiert und arbeitet eng zusammen mit der deutschen Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl.
"Hier habe ich nichts"
Immerhin: Vor gut zwei Wochen schickten die griechischen Behörden ein sogenanntes Übernahmeersuchen an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Gemäß der Dublin-Vereinbarung kann ein EU-Mitgliedstaat einen anderen darum bitten, ein laufendes Asylverfahren zu übernehmen, um "Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, zusammenzuführen".
Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von ProAsyl, hofft auf eine schnelle Lösung, weiß aber, wie schwierig das ist: "In Griechenland warten mehrere Tausend Menschen auf ihre Ausreise, die schon eine Zusage aus Deutschland haben." Auch diese Fälle müssten noch abgearbeitet werden. Das Warten dürfte also weitergehen.
Dabei ist es schwer, sich einen Fall auszudenken, auf den die humanitären Kriterien der Dublin-Vereinbarung besser passen. Ständig denkt Fahima an das Unglück: Wenn sie träumt, dann von dem Schiffbruch. Wenn sie wach ist, kommen die Erinnerungen an den Schicksalstag, an die letzten Worte ihrer Kinder. Die Nachbarn in Athen beschweren sich schon über das anhaltende Klagen und Weinen.
Ihrem Krankenblatt zufolge leidet Fahima an "Depressionen, Schlafstörungen, Hoffnungslosigkeit und Desinteresse am Alltagsleben, Frust, Hilflosigkeit und Einsamkeit". Ihre körperliche Verfassung wird immer schlechter, sie leidet an Asthma und Arthritis. Ein türkisches Krankenhaus hat noch vor der Überfahrt eine Krebsdiagnose gestellt, nachdem ein Knoten in ihrer Schulter gefunden wurde - jetzt wartet Fahima auf die Ergebnisse eines griechischen Labors.
Die Chancen sind gering - Deutsch lernen sie trotzdem
Darab und seine Schwester lehnen es unterdessen ab, auch nur daran zu denken, dass Deutschland sie zurückweisen könnte. Mariam war vor der Flucht in Afghanistan eine Einser-Schülerin, noch heute präsentiert sie stolz ihr Zeugnis und träumt davon, Zahnärztin zu werden. Darab hat in Afghanistan als Anwalt gearbeitet und will das auch in Deutschland tun.
Vertrauliche Informationen
Wenn die beiden Geschwister nicht mit Gerichtspapieren beschäftigt sind oder sich um ihre Tante und ihre Mutter kümmern, lernen sie Deutsch - weil kein Platz in den Deutschkursen für Flüchtlinge in Athen frei ist, lernen sie online. "Die Grammatik ist kompliziert, aber ich mag Deutsch sehr gerne", sagt Darab. "Guten Morgen, Guten Tag", sagt er und lächelt zum ersten Mal.
Die andere kleine Flucht aus dem traurigen Alltag ist für ihn die Fußballweltmeisterschaft. "Ich sehe mir so viele Spiele an wie möglich. Und genau wie meine Familie habe ich Deutschland die Daumen gedrückt. Sehr schade, dass sie ausgeschieden sind."
Im Video: Unglück im Mittelmeer
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