Ein Abendblatt-Reporter durfte die riskante Therapie von psychisch kranken Straftätern fast ein Jahr lang begleiten.
Die letzten Momente in Freiheit zogen schnell an Michael M.* vorbei. Sie drückten ihn in einen gesicherten Transporter und fuhren los. Michael M. dachte nicht an sein Opfer. Es war alles zu neblig, zu durcheinander. Der Wagen bog rechts ab und hielt in Ochsenzoll. Michael M. sei krank, hatte der Richter geurteilt. Im Namen des Volkes müsse er sich bessern.
Er sitzt ganz rechts in der Ecke und wartet auf seine Erlösung. Michael M. hält den Blick nach vorn gerichtet, der Arzt und die Pflegerin werfen sich einen müden Blick zu. Endlich spricht die Frau: „Ja, wir feiern ein Sommerfest auf Station! Aber Sie organisieren das bitte selbst.“
Einige der 15 Männer im Halbkreis rutschen vor Freude so stark über ihre Holzstühle in der Stationsküche, dass sie quietschen. Michael M. klatscht mit seinem Sitznachbarn ab. Er sitzt für den Rest der Patientenversammlung mit einem Lächeln da, ein Mann mittleren Alters mit treuen Augen und dicker Brille. Danach geht er zur Arbeit in die Werkstatt, er grüßt jeden Arzt und Pfleger auf dem Weg höflich, mit Anrede.
Vielleicht wird das sein Jahr. Oft horche er in sich hinein, sagt Michael M., sucht nach den dunklen Gedanken, die ihn letzten Endes hierhergebracht haben. Wie ein Seiltänzer, der kurz in den Abgrund blickt, bevor er weitergeht. „Ich schäme mich für das, was ich gewesen bin“, sagt er. Und er hofft, dass die Ärzte ihm das glauben. Das Ziel komme näher.
Draußen auf dem Gelände der Asklepios Klinik Ochsenzoll deckt kalter Tau den Rasen. Eine sechs Meter hohe Mauer umschließt das Gebäude. Der Lärm der Großstadt ist weit weg. Aber ihre Probleme sitzen hier ein. Rund 350 verurteilte Straftäter wie Michael M. Sie haben getötet oder vergewaltigt, Kinder geschändet, Menschen vor fahrende U-Bahnen gestoßen, Menschen angezündet, auf Passanten eingestochen, die an einem Sonnabend bei IKEA einkaufen waren.
Sie wurden von Gutachtern untersucht, befragt, ihre Gesichter mit schwarzen Balken in Zeitungen gedruckt. Dann kamen der Prozess und das Urteil. Schwer psychisch krank und schuldunfähig. Bei rund 80 Prozent von ihnen hieß es, sie hätten im Wahn gehandelt, Elfen gesehen oder Befehle des Teufels entgegengenommen. Die übrigen seien Sadisten, „seelisch abartig“, unfähig zur Empathie. Sie alle seien zu krank für ein normales Gefängnis und zu gefährlich für die Gesellschaft.
Ihre Opfer und deren Hinterbliebenen mussten anfangen, ein Leben nach der Tat zu suchen, ihre Strafakten schloss man und schickte sie nach Ochsenzoll, Haus 18, Maßregelvollzug. Antworten auf die größten Fragen standen darin nicht.
Wieso werden Menschen zu Bestien? Und was haben sie danach noch verdient?
Michael M. weiß, dass ihn viele Menschen in Hamburg verrotten lassen würden. Bloß wegsperren für immer. In der Praxis ist das schwierig. Schon aus Platzgründen. Seit 2001 hat sich die Zahl der psychisch kranken Straftäter im Maßregelvollzug verdreifacht. Zeitweise mussten sie jedes Jahr eine neue Station eröffnen, um noch hinterherzukommen. Draußen ist etwas aus den Fugen geraten, in Haus 18 kämpfen sie dagegen an.
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(Abendblatt plus)
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