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Mit gestohlenem Pass in den Dschihad

Die Behörden reagieren mit Verboten auf die Radikalisierung junger Muslime. Die Angehörigen fühlen sich im Stich gelassen.

Der Abschied aus seinem Hamburger Leben kommt per SMS an den Bruder. "Macht Euch keine Sorgen. Ich bin in der Türkei", schreibt Önder M. Dazu schickt er ein kurzes Video, einen Selfie mit dem Handy aufgenommen, irgendwo in einem Istanbuler Bahnhof. Der Bruder zuhause in der Wohnung schaut sofort nach seinem Reisepass in der Schublade. Er ist weg. Önder M. hat ihn genommen und ist damit losgereist.


So soll es gewesen sein, Anfang des Jahres, als M. aufbrach in Richtung Türkei, wahrscheinlich weiter in Richtung Syrien. In den Dschihad. So erzählt es ein Bekannter der Familie. Gegen Önder M. läuft ein Verfahren, der junge Mann, Jahrgang 1996, aus dem Bezirk Altona hat nun ein Aktenzeichen bei der Polizei. Die Familie möchte nicht mit Journalisten sprechen. Zum Schutz sind die Namen in diesem Text geändert, die Geschichten sind wahr.


Önder M. hatte sich radikalisiert, verteilte den Koran auf Straßen, lebte mit anderen Islamisten in einer Wohnung, ließ sich einen Bart wachsen, wie ihn viele der jungen Männer tragen, die Behörden und Medien nur Salafisten nennen. Rund 60 Hamburger reisten seit 2012 laut Verfassungsschutz ins Gebiet extremistischer Gruppen wie dem "Islamischen Staat" (IS) in Syrien oder dem Irak. Bundesweit sind es 720. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein.


Geheimdienst und Polizei kannten Önder M.s Weg in die Radikalität. Ende 2014 informierten sie sogar seine Eltern über die Umtriebe ihres Sohnes in der Salafisten-Szene. Auf Antrag der Sicherheitsbehörden wird ihm der Pass entzogen. Drei Monate später ist Önder M. weg.


Und er ist kein Einzelfall. Allein in Hamburg haben sich vier Islamisten auf den Weg in Richtung syrisches Kriegsgebiet gemacht, obwohl die Behörden ihnen vorher den Pass entzogen oder sogar einen Ersatz-Personalausweis ausgestellt hatten. Offenbar konnten die Beamten ihnen nicht auf den Fersen bleiben. Offenbar schafften sie es vorbei an den Grenzkontrollen der Bundespolizei oder den Beamten an der EU-Außengrenze – trotz Verbotsvermerk, der laut Anweisung sowohl in nationalen Datenbanken als auch in den Daten der Schengenstaaten gespeichert werden soll.


Zwei Personen reisten noch 2014 aus Hamburg aus, schon zwei Fälle sind den Hamburger Behörden in diesem Jahr bekannt, seitdem Behörden nicht nur den Reisepass, sondern auch der Personalausweis einziehen können. Die Zahlen stammen aus den Antworten einer Anfrage der Hamburger Linken, die dem Abendblatt vorliegt. Einer der Ausreißer ist Önder M. Insgesamt entzogen die Behörden bisher mindestens 19 Islamisten in der Hansestadt die Reisedokumente. Bundesweit ist es eine niedrige dreistellige Zahl, genaue Angaben liegen den Bundesbehörden nicht vor. Sie verweisen nur an die Länder.


In Hessen flohen zwei Islamisten – trotz elektronischer Fußfessel

Die Erfahrungen dort zeigen: Die Polizei kann die Ausreisen junger Menschen in den Krieg nicht immer verhindern. Im Januar gibt die Bundesregierung an, dass seit 2012 mindestens 20 Islamisten trotz Reisepassentzug in Richtung Syrien und Irak aufgebrochen sind. In Hessen ist zwei Männern die Flucht gelungen, obwohl die Behörden ihnen eine elektronische Fußfessel verpasst hatten.


Stolz hatten Justizminister Heiko Maas (SPD) und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) im vergangenen Jahr die Maßnahmen zum Passentzug präsentiert. Auch Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) hatte sich für die schärferen Gesetze stark gemacht. Nun stellt der Senat zu den vier Ausreißern fest: "In der Regel wird ein Reiseweg über die Türkei auf dem Luft- oder Landweg genutzt, aber nicht in jedem Fall ist der Reiseweg bekannt." Syrien, sagen machen, liegt um die Ecke. Wer als Dschihadist in die Türkei reisen wollte, brauchte bis Anfang des Jahres nur seinen Personalausweis.

Und doch: Nicht nur Verfassungsschutz und Polizei halten die Gesetze für sinnvoll. Der Senat bewertet Ausreiseverbote als "wichtigen Baustein" im Kampf gegen Islamisten. Dies habe eine "abschreckende Wirkung". 2015 besserte die Regierung nach: Auch der Personalausweis kann eingezogen werden.


Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums globaler Islam, und Petra Lotzkat, die das Amt für Arbeit und Integration in Hamburg leitet, sprechen sich ebenfalls dafür aus. Doch Schröter sagt auch: "Die Grenzbeamten und Sicherheitsbehörden kommen bei der stark steigenden Zahl an Dschihadisten gar nicht hinterher, alle Fälle zu beobachten." Ein Allheilmittel ist der Passentzug nicht, das sehen alle so.


Die Opposition warnt vor Risiken. Cansu Özdemir von den Hamburger Linken befürchtet, dass sich die Behörden nicht nur auf die Dschihadisten beschränken könnten. "Zum Beispiel auch Kurden, die gegen den IS kämpfen wollen, könnte der Pass entzogen werden." Deutschland stuft die PKK als Terrororganisation ein. Bisher ist das laut Senat aber nicht der Fall.


Und auch Lotzkat von der Sozialbehörde sagt: "Die radikalisierten Jugendlichen bewegen sich möglicherweise stärker in den Untergrund. Hier müssen wir aufpassen, dass wir diese Menschen nicht für die Präventionsarbeit verlieren." Islamisten chatten nicht mehr so stark auf Facebook, sondern geheim: mit dem Handy in geschlossenen Gruppen wie WhatsApp, in verschlüsselten Foren oder in geheimen Treffs: in Wohnungen oder Boxclubs.


Die Szene stellt sich auf die schärferen Gesetze ein. Zwei der vier bekannten Ausreißer aus Hamburg hätten vorher laut Senat einen fremden Ausweis gestohlen. Nach Informationen des Abendblatts läuft derzeit auch ein Verfahren gegen Önder M. – wegen Diebstahls. Und nun prüft auch der Staatsschutz den Fall.


Ob Mehmet A. von dem Passentzug abgeschreckt ist, bleibt offen. Auch er und seine Familie möchten nicht mit Journalisten sprechen. Klar ist: Der junge A., Jahrgang 1998, hat derzeit keinen Pass mehr. Und er ist noch in Hamburg. Nicht im Dschihad. Der Fall zeigt das schnelle Vorgehen der Sicherheitsbehörden. Doch der Fall von Mehmet A. wirft auch Fragen auf.


Die Familie lebt in einer kleinen Wohnung. A. wird hier geboren, geht zur Schule. Er erhält wie seine Eltern einen Aufenthaltstitel, mehrfach wird er verlängert. So steht es in der Akte der Hamburger Meldebehörden. Es sind Dokumente, die von der Geschichte einer Einwanderung erzählen, so wie es sie zu Tausenden in Hamburg bei den Ämtern gibt.


Doch 2014 kommen neue Einträge dazu. Das Landeskriminalamt schaltet sich ein. Mehmet A. wurde von der Polizei bei den Krawallen zwischen Islamisten und Kurden gefasst. In dem Vermerk der Sicherheitsbehörden heißt es, dass in solchen Fällen auf Wunsch des Innensenators die Abschiebung geprüft werden soll.


Ende 2014 prüft der Verfassungsschutz, welche Chancen es für den Entzug des Passes gibt. Aus der Akte geht hervor, dass die Verfassungsschützer vor allem Mehmet A.s Facebook-Profil als "dschihadistisch" bewerten. Dessen Seite war bereits gelöscht, doch der Geheimdienst hatte alte Einträge gespeichert. Dass Mehmet A. das Profil gehörte, daran zweifelt die Behörde nicht. Auf der Internetplattform befasse sich A. laut Verfassungsschutz vor allem mit Islam und dem Konflikt in Syrien. Dabei habe er auch "offen seine Sympathie für den IS" geäußert: beispielsweise unter einem Bild gegen den IS bei Facebook, in dem A. sinngemäß kommentiert habe, dass der IS in Syrien und Irak für einen Gottesstaat kämpfe, und wer etwas dagegen sagt, solle bitte Beweise bringen.

Auch die Profilseiten der Hamburger Koranverteiler von "Lies" oder "Hamburg Dawah Movement" klickte er "gefällt mir". Vor allem diese Männer an den Koranständen sieht der Verfassungsschutz als Werber für den Dschihad.


Der Dienst bilanziert in seiner Akte zu Mehmet A., dass eine Ausreise in das Dschihad-Gebiet nach Syrien oder Irak unmittelbar bevorstehen könnte. Dass A. dort auch auf Seiten von Terrorgruppen kämpfen könnte, sei anzunehmen.

Schon einen Tag später geht die Verfügung per Post an die Eltern. Ihrem Sohn wird die Ausreise verwehrt, binnen einer Woche soll A. seinen Reisepass bei der Ausländerbehörde abgeben, die Grenzbeamten der Bundespolizei seien informiert, seine Daten nun auch im Schengener Informationssystem SIS gespeichert, vorerst befristet bis Ende 2015. Verstößt Mehmet A. gegen das Ausreiseverbot, droht ihm bis zu einem Jahr Haft. A. ist jetzt für die Behörden eine Gefährdung für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik.


Die Behörde macht viel – und doch fühlen sich manche Familien alleingelassen

Im Brief der Behörde heißt es weiter sinngemäß: Würde eine Ausreise nicht unterbunden, mache sich Deutschland unglaubwürdig im Kampf gegen Terroristen, das Image würde diskreditiert. Zudem könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich A. im Kriegsgebiet an Waffen ausbilden lasse. Der Schutz der Öffentlichkeit überwiege beim Entzug seines Passes über private Freiheiten.


Ob vorher überhaupt mit den Eltern gesprochen wurde, geht nicht aus den Akten hervor. Sie handeln sofort, ein paar Tage später bringt der Vater den Pass seines Sohnes zur Behörde.

Der Fall Mehmet A. zeigt, wie schnell die Behörden reagieren. Er zeigt aber auch, dass die Familien wenig Einfluss haben. Als die Eltern im Sommer mit ihrem Sohn in den Ferien in die Türkei reisen wollen, bitten sie bei der Behörde um ein Ende der Sperre. Die Verfassungsschützer lehnen ab. Zwar sei A. in seinen Äußerungen auf Facebook vorsichtiger geworden, dennoch habe er erneut an Koranständen für die Salafisten geworben. Der Passentzug bleibt.


Ein Vertrauter der A.s erzählt, dass sich die Familie mit der Radikalisierung ihres Kindes alleingelassen fühlt. Auch andere Eltern hatten das gegenüber dem Abendblatt kritisiert. Eine Mutter aus Wilhelmsburg hatte ihren eigenen Sohn sogar angezeigt, als dieser vom Dschihad schwärmte. Die Sicherheitsbehörden observierten den jungen Mann. Genützt hat es nichts, er reiste aus.


Und doch sind die Behörden nicht tatenlos. In den vergangenen drei Jahren betreuten Sozialarbeiter insgesamt 90 Familien. Manche der Kinder sind schon im Dschihad, andere noch hier. Nur: In der Zeit, als Önder M. in den Dschihad reiste, baute Hamburg die Präventionsarbeit noch auf. Die vielen Fälle landeten bei Mitarbeiter vom Bund oder einem Bremer Sozialträger, den die Stadt mit der Prävention beauftragt hatte.


Erst seit diesem Sommer hat Hamburg ein eigenes Netzwerk, das sich um radikalisierte Jugendliche kümmert. Die Sozialpädagogen arbeiten nun die Liste der Fälle ab. Auch die drei großen muslimischen Verbände und die Aleviten engagieren sich, das ist bundesweit einmalig. Islam-Forscherin Schröter begrüßt den Einsatz der Verbände. Das legitimiere die Präventionsarbeit des Staates auch unter Muslimen in der Stadt. Önder A.s Familie hilft das derzeit wenig. Ihr Kind ist schon weg.

 

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