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Zwei Kalifornien in der Corona-Krise

Los Angeles hat deutlich mehr Covid-19-Fälle als San Francisco. Zu den vielen Ursachen könnte auch eine sich schneller verbreitende Variante des Coronavirus gehören.


Kalifornien gehört zurzeit zu den US-Staaten, die am schlimmsten vom Coronavirus heimgesucht werden. Jeden Tag infizieren sich in dem sonnigen 40-Millionen-Staat 25.000 Menschen, und etwa 500 sterben. In der letzten Woche sind die Zahlen langsam zurückgegangen, aber für eine Entwarnung ist es zu früh.

Aber das Bild der Seuche in Kalifornien ist kein einheitliches. Das wird am deutlichsten, wenn man die zwei bekanntesten Städte im Staat vergleicht: In Los Angeles starben am Freitag 257 Menschen an Covid. In San Francisco sind im gesamten vergangenen Jahr nur 274 Menschen an dem Virus verstorben.

Zugegeben, die Zehn-Millionen-Metropole Los Angeles hat zwölfmal so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie San Francisco. Aber auch wenn man es auf 100.000 Menschen herunterrechnet, ist der Unterschied frappierend: Dreimal so viele Infektionen und fast fünfmal so viele Tote hat LA da zu verzeichnen. Woran liegt das?

Darüber haben im vergangenen Jahr Mediziner, Politikerinnen und Journalisten gerätselt, und es ist letztlich eine Mischung aus mehreren Faktoren: die Menschen, die lokale Wirtschaft, die Stadtregierung.

San Francisco ist eine Art Insel in den vom Coronavirus gebeutelten USA. Von Anfang an hat die Stadt alles richtig gemacht: Im vergangenen Februar, als es in den gesamten USA 57 Covid-Fälle gab und noch gar keinen in der Stadt an der Bay, verhängte die junge Bürgermeisterin London Breed den Ausnahmezustand. Am 17. März legte sie das öffentliche Leben der Stadt lahm - als New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo, der spätere Corona-Held, noch sagte, es gebe keinen Grund, zu Hause zu bleiben.

Die großen Tech-Firmen, die in und um San Francisco zu Hause waren, zogen mit und schickten ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen nach Hause. Und die zu einem großen Teil gut ausgebildeten und gut verdienenden Einwohner zogen mit und verhielten sich diszipliniert. Die Prozentzahl der Maskenträger ist hier so groß wie nirgends sonst in den . Weil die Maske zum Politikum wurde, trug man sie hier schon als Zeichen des Widerstands gegen den damaligen Präsidenten im Weißen Haus.

Aber das Bild von San Francisco als eine Ansammlung weißer Tech-Worker, die in ihren schnuckligen viktorianischen Eigenheimen ihrer Arbeit genauso gut nachgehen können wie im Büro, ist natürlich ein Zerrbild. Die große soziale Schere zwischen dieser Schicht und dem Rest klafft immer weiter auseinander, die Kehrseite ist zum Beispiel eine zunehmende Obdachlosigkeit.

Der Erfolg in der Pandemiebekämpfung wäre nicht denkbar gewesen ohne eine sehr gute öffentliche Gesundheitsstruktur. Die Stadt hat in den Achtzigerjahren bittere Erfahrungen mit einer anderen Epidemie gemacht, sie war das Epizentrum der Aids-Welle in den Achtzigern. In Zusammenarbeit mit den hervorragenden Medizinerinnen und Medizinern der University of California San Francisco (UCSF) hat man gelernt, sehr lokal zu handeln und gefährdete soziale Gruppen besonders intensiv zu betreuen.

So wurde nun zum Beispiel Laguna Honda, das mit 720 Einwohnern größte Altenheim des Landes, sofort in den Fokus der Gesundheitswächter genommen. Bis Dezember starb dort kein einziger Bewohner und keine Bewohnerin an Covid, in der letzten Welle hat es sechs Todesfälle gegeben.


Zusammenbruch nach Thanksgiving

Ein weiterer Public-Health-Schwerpunkt waren die mehrheitlich von Latinos und Latinas bewohnten Stadtteile wie der auch bei Touristen beliebte Mission District. Dort verdienen die Menschen weniger, wohnen eng aufeinander und viele haben Jobs, die sich nicht vom Heimbüro aus erledigen lassen.

"Jemand muss die essenziellen Arbeiten machen, damit andere zu Hause bleiben und Algorithmen für Google programmieren können", so drückte es die Forscherin Kim Rhoads von der UCSF gegenüber dem New Yorker aus. Rhoads gehörte zu einer Gruppe aus Gesundheitsarbeitern und lokalen Aktivistinnen, die in der Mission von Haus zu Haus gingen, die Menschen über das Virus aufklärten und Tests anboten. Aber trotz solcher Anstrengungen machen Latinxs 45 Prozent der Infizierten in San Francisco aus, ihr Anteil an der Bevölkerung beträgt nur 15 Prozent.

Auch Los Angeles trotzte der Pandemie in den ersten Monaten recht erfolgreich. Die Stadt ist der größte Kreis im ganzen Land und sozial erheblich diverser, als es das Klischee von den Filmstars in Hollywood und den endlosen Suburbs mit sauberen Einfamilienhäusern vermuten lässt. Es gibt Industrien und einen großen Hafen, dicht besiedelte Stadtviertel mit zum großen Teil undokumentierten Einwanderern. LA hat den größten social vulnerability index des Landes, ein Maß dafür, wie Katastrophen oder grassierenden Krankheiten eine Gesellschaft überstrapazieren können.

Der Zusammenbruch kam dann ab Ende November: Nach dem Thanksgiving-Feiertag, den viele Familien entgegen allen Warnungen feierten, und den Weihnachtstagen brachten mehrere Wellen von Neuinfektionen das Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs. Insbesondere die Intensivstationen waren voll belegt – fast eine Garantie dafür, dass aus schweren Covid-Fällen Todesfälle werden.

"Wir zahlen jetzt den Preis dafür, dass Los Angeles eine Kombination aus Armut und Bevölkerungsdichte hat, die dafür sorgt, dass ein Virus sich viel schneller und verheerender ausbreiten kann", sagte Bürgermeister Eric Garcetti der Los Angeles Times. Er muss sich aber auch Vorwürfe gefallen lassen, dass unverständliche Covid-Bestimmungen der Stadtverwaltung in letzter Zeit zu einer gewissen Regelungsmüdigkeit der Bevölkerung geführt haben. So konnten nur wenige Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass man Kinderspielplätze im Freien schloss, während Geschäfte noch für den Kundenverkehr geöffnet waren.


Zumindest ein verstärkender Faktor für die aktuelle Infektionswelle könnte allerdings vor allem im Süden Kaliforniens, wo Los Angeles liegt, eine neue Variante des Virus sein, die in der vergangenen Woche identifiziert wurde. Forscherinnen und Forscher des Cedars-Sinai Medical Centers in L.A. entdeckten diese neue Corona-Spielart fast zufällig im vergangenen Sommer.

Jasmine Plummer und Eric Vail gehören zu den vielen Medizinern, die im vergangenen Jahr zu Coronavirus-Forschern wurden. Sie arbeiteten eigentlich an der Genetik von Krebserkrankungen, begannen aber dann, Viren-DNA zu sequenzieren, insbesondere, um Mutationen des Erregers frühzeitig zu erkennen.

Anhand minimaler Veränderungen im Genom können sie extrem detailliert die Ausbreitungswege des Virus nachzeichnen. Im Extremfall können sie sagen, welcher Infizierte bei welcher Multispreader-Party zu Gast war. Im vergangenen Juli suchten sie vor allem nach einer Mutation mit dem Namen L452R, welche die Spikes verändert, die ikonischen Stacheln des Virus, mit denen es an seiner Wirtszelle andockt. Diese Mutation macht die Variante B.1.1.7 so viel infektiöser als das Standard-Coronavirus.


Sie nannten die Variante CAL.20C

Plummer und Vail fanden Viren mit dieser Mutation, und alle stimmten auch noch in weiteren vier Genveränderungen überein. Die Forscher schlossen daraus, dass es sich hier um eine ganz neue Variante des Virus handeln musste, die irgendwo in Kalifornien entstanden war. Sie gaben ihr den Namen CAL.20C.

In ihrer ersten Testreihe fanden sie die neue Variante in einer von 1.230 Proben. Aber Woche für Woche wuchs ihr Anteil der positiven Covid-Tests. Aktuell wird CAL.20C in der Hälfte der Proben in Los Angeles gefunden, und längst hat sich die Variante über ganz Kalifornien ausgebreitet und wird zunehmend auch in anderen Staaten der USA entdeckt.

Ist die neue Form des Virus infektiöser als die bisherigen? Ist es für die aktuelle Infektionswelle in Los Angeles verantwortlich? Da wollen sich die beiden Forscher noch nicht eindeutig festlegen – ihr Fachgebiet ist die Genetik, erst epidemiologische Untersuchungen können genau beziffern, wie schnell sich das Virus ausbreitet.

Aber allein die Tatsache, dass es offenbar die anderen Varianten des Virus verdrängt, deutet darauf hin, dass es leichter seine Opfer findet. "Die jetzige Welle wurde nicht durch CAL.20.C ausgelöst", sagt Eric Vail, "aber es hat wahrscheinlich das Ausmaß der Welle beeinflusst und ist wahrscheinlich infektiöser als die anderen Varianten, die im Moment kursieren. Während die Fälle insgesamt schon wieder zurückgehen, steigen sie für diese Variante weiterhin an."

Auch wenn die Kalifornier es mit einem aggressiveren Virus zu tun haben, befürworten die beiden Forscher keine schärferen öffentlichen Regeln. Es müsse sich nun auch nicht jeder und jede eine bessere Maske zulegen. "Wir haben diesem Virus die Chance gegeben, sich auszubreiten", sagt Jasmine Plummer. "Würden alle endlich einmal die Basisregeln befolgen, also Social Distancing praktizieren, Hände waschen und Masken tragen, dann hätte das Virus keine Chance."

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