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Immer mehr Magersüchtige - eine Betroffene berichtet

Düsseldorf. Im vergangenen Jahr ließen sich mehr Menschen wegen Magersucht stationär behandeln als noch 2012. Auch in Düsseldorf steigt der Bedarf an Therapieplätzen. Unsere Redaktion hat mit einer jungen Frau gesprochen, die die Krankheit mittlerweile im Griff hat. Überwunden hat sie sie aber noch nicht.


Der kleine Teufel auf Yvonnes Schulter muss unerträglich laut gewesen sein. „Du bist schlecht", hat er gesagt, manchmal auch „Keiner mag dich", aber am häufigsten hörte sie von ihm „Du darfst das nicht". Gemeint hat er das Essen. Vor allem das mit viel Fett und Zucker. Yvonne hat ihm geglaubt. Sie war magersüchtig.


Laut einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse mussten im vergangenen Jahr deutschlandweit rund 20 Prozent mehr Versicherte als noch 2012 wegen Magersucht oder Bulimie stationär behandelt werden. In mehr als 95 Prozent der Fälle seien Frauen betroffen gewesen, etwa jeder vierte Krankenhausaufenthalt entfiel auf unter 15-Jährige.


Krankheit beginnt bei Yvonne mit 17 Jahren

Diese Entwicklung stellt man auch am Evangelischen Krankenhaus (EVK) in Düsseldorf fest. „Gefühlt haben wir in den letzten Jahren eine gesteigerte Nachfrage nach Therapieplätzen", sagt Sven Sevecke, Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation. Der Düsseldorfer Kinderarzt Hermann Kahl vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte spricht von auffällig mehr jüngeren Betroffenen, die seine Praxis aufsuchen. „Seit zwei, drei Jahren geht das so."


Bei Yvonne begann die Krankheit vor acht Jahren. Ganz langsam hat sie sich in den Körper der damals 17-Jährigen geschlichen, hat ihren Blick auf Kalorientabellen gelenkt, ihr eingeredet, dass sie sich besser fühle, wenn sie noch dünner wäre. Als würden sich die eigentlichen Probleme auflösen, indem man sich selbst auflöst.


Magersucht soll Probleme verdrängen

Heute weiß Yvonne, dass es ihr nicht primär darum ging, möglichst dünn zu sein. Es war nur ein Symptom für tieferliegende Probleme. Dinge, denen sie psychisch nicht gewachsen war, wie sie sagt. Die Ausbildung, die nicht zu ihr passte, der Vater, der sehr bestimmend war, die wenigen Freunde. „Dazu kam ich mit mir als Person nicht klar und damit, erwachsen zu sein", erinnert sie sich. Die Magersucht war ihre Art, all das zu verdrängen. „Man beschäftigt sich lieber mit dem Essen als mit den wirklichen Problemen."


In der Hochphase der Sucht wog Yvonne nur noch 44 Kilogramm, bei einer Größe von 1,80 Meter. Sie nahm am Tag vielleicht 400 Kalorien zu sich - wenn überhaupt. So viel steckt in zwei Laugenbrezeln. Sie las im Stehen, weil das mehr Kalorien verbraucht, überlegte sich Ausreden, um nichts essen zu müssen. „Ich legte mich lieber ins Bett und dachte daran, wie es wäre, einen Schokoriegel zu essen."


Hilfe findet Yvonne beim Verein Pro Mädchen

Dass ihr Körper immer schwächer wurde, ignorierte Yvonne. Ständig war sie müde, launisch. Ihre Finger, Zehen und Lippen waren blau vor Kälte, weil der Körper auf Notversorgung umgestellt hatte und nur noch das nötigste richtig durchblutete. Doch je kleiner die Zahl auf der Waage wurde, desto größer war der Ansporn weiterzumachen. „Je mehr Knochen am Körper deutlich werden, desto glücklicher ist man", sagt sie.


Doch dann kam eines Morgens die Angst.

Yvonne lag im Bett und hatte furchtbare Schmerzen im Brustkorb - weil sie atmete. „Da dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich wirklich eine stationäre Therapie brauche." Bisher war das Flehen von Familie und Freunden an ihr abgeprallt. Mit Hilfe des Vereins Pro Mädchen fand sie eine Ärztin, die sich mit Essstörungen auskennt. Sie empfahl Yvonne das Fliedner Krankenhaus in Ratingen, wo sie nicht lange auf einen Therapieplatz warten musste. Sechs Monate blieb Yvonne dort, wurde mit Gesprächen, Kunstkursen und Bewegung behandelt. Später lernte sie auch zu kochen. Sie stimmte zu, jede Woche 500 Gramm zuzunehmen, unterschrieb dafür einen Vertrag. „Es war alles andere als einfach."


Bilder von damals findet Yvonne heute abschreckend

Heute ist der kleine Teufel auf Yvonnes Schulter leiser, aber nicht stumm. Ihren Frieden mit dem Essen hat sie noch nicht gemacht, kann sich aber wieder etwas gönnen und hat Normalgewicht. „Ich denke nicht, dass man die Krankheit ganz überwinden kann", sagt sie. „Aber wenn ich heute Bilder von damals von mir sehe, dann bin ich sicher, dass ich nie mehr so aussehen möchte."


Christine Holthoff

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