Weltjugendtag, Buchmesse, Weltmeisterschaft, Olympische Spiele - die ganze Welt blickt zurzeit nach Brasilien. Durch die Proteste, die im Juni dieses Jahres begannen, wissen wir, dass viele Menschen unzufrieden sind in ihrem Land. Was sagen Sie zu den aktuellen Entwicklungen in Brasilien?
Brasilien ist ein gigantisches Land mit 200 Millionen Einwohnern, einer mächtigen Wirtschaft und vielen Naturressourcen - und daher das Objekt der Begierde vieler großer Firmen und Banken. Gleichzeitig gibt es aber noch immer eine gewisse Vernachlässigung des „einfachen Menschen". Der Bildung stehen nicht genügend Mittel zur Verfügung. Ein Beispiel: Allein im Bundesstaat São Paulo, dem reichsten Staat Brasiliens, fehlen 59.000 Lehrer, also praktisch ein Drittel.
Außerdem fehlt Wohnraum und der öffentliche Personennahverkehr ist schlecht. Seit der Lula-Regierung wurden viele soziale Projekte eingeführt: Durch das Programm „Bolsa Família" (Familienunterstützung) wurde die Kindersterblichkeit erheblich gesenkt, „ProUni - Universität für jeden" verschaffte vielen armen Studenten Zugang zur Universität, „Minha Casa Minha Vida" (Mein Haus, mein Leben) ermöglichte auch Armen, ein Haus zu kaufen und so weiter. Diese Projekte wurden alle von oben, von einer intelligenten, einer sozial engagierten Elite ausgearbeitet, aber mit wenig Kontakt zur „einfachen" Bevölkerung.
Was ich sagen will: Brasilien ist heute ein Land mit einer Minderheitendemokratie. Bist du Afro-Brasilianer, gibt es eine Zulassungsquote an Universitäten, hast du eine Behinderung, gibt es eine Einstellungsquote für Behinderte, bist du alt, so wie ich, kannst du umsonst den öffentlichen Nachverkehr nutzen und bist du Indigener, gibt es ein Gesetz, das die Indigenen schützt.
Bist du aber nichts von alledem, dann hast du keine Rechte. Du wirst von den Banken ausgenommen und in einem Gesundheitssystem, in dem man erst in sechs Monaten einen Termin beim Arzt bekommt, mangelhaft versorgt. Und du musst den überfüllten Bus bezahlen, der eine schlechte Verkehrsanbindung hat.
Heutzutage erleben wir den Niedergang des Journalismus und vor allem der Person des Journalisten. Der Journalist ist heute ein junger Mensch, der im Leben aufsteigen möchte und, mit einigen Ausnahmen, keine großen sozialen Sorgen hat. Er begreift schnell, dass dieser Beruf nicht so ist, wie er ihn sich vorgestellt hat: sehr stressig, unterbezahlt und mit viel Konkurrenzdruck. Er wird den Journalismus schnell verlassen und in einen anderen Bereich wechseln. Der Journalismus wird zum „Durchlauf-Beruf".
Außerdem sind die großen brasilianischen Medienunternehmen sehr konservativ geprägt. Sie gehören zum Machtkomplex, sind also nicht unabhängig. Aber es gibt ein paar Journalisten, auch unter meinen Schülern, die einen aktiven Journalismus betreiben und für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) arbeiten. Das ist sehr interessant. Sie greifen nicht die Struktur des Systems an, aber die Symptome.
Nein, in Brasilien wird viel kritisiert. Vor allem, da die großen Verlage die aktuelle Regierung nicht wollen, weder Lula noch Dilma. Aber es ist eine Kritik der dominanten Elite, die der Regierung schaden will. Außerdem ist sie nicht gut recherchiert und manchmal beleidigend. Brasilien ist ein Land mit einer autoritären Kultur - und dementsprechend ist auch der brasilianische Journalist autoritär.
Historisch gesehen ist die brasilianische Kultur eine mündliche Kultur. Daher gibt es viele Veröffentlichungen im Fernsehen und Radio und weniger in der geschriebenen Sprache. Brasilien ist ein Land mit wenigen Buchläden, ein Land, in dem wenig gelesen wird. Mittlerweile hat die Regierung Pläne, um das Lesen zu fördern. Außerdem gibt es viele literarische Auszeichnungen, die es früher nicht gab, sowie Literaturwettbewerbe, kulturelle Programme, Lesungen, Debatten und Tagungen, die von der Regierung der Bundesstaaten oder der kommunalen Verwaltung gefördert werden. Und es gibt sogar eine gewisse Blüte der brasilianischen Literatur. Obwohl es meiner Meinung nach heutzutage keine großen nationalen Autoren gibt, so wie in den 40er und 50er Jahren.
Mein Buch wurde zum Teil dieser Debatte, es heizte sie an, weil es ein Buch ist, dass die Menschen bewegt. Ich denke aber, dass ein guter Schriftsteller mit seinem Schreiben keine bestimmte Absicht verfolgt. Er schreibt, weil er schreiben muss. Darin finde ich mich wieder. Ich habe geschrieben, weil ich schreiben musste, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, außer gute Literatur zu schaffen.
Mein Buch wurde von Vielen als Interventions-Buch gesehen, das gefiel mir nicht. Ich bin zufrieden, wenn es als literarisches Werk behandelt wird. Nicht, dass ich dagegen bin, durch das Buch eingegriffen zu haben. Aber ich bevorzuge es, auf literarische Weise kritisiert und analysiert zu werden. Sofern das möglich ist.
„K. oder Die verschwundene Tochter" ist mein erster Roman. In Brasilien fand er großen Anklang bei den Menschen, die zu dieser Zeit lebten. Es wurden zwei Auflagen gedruckt. Aber den konventionellen Medien gefällt dieses Thema nicht wirklich.
In Deutschland spüre ich großen Respekt gegenüber der Person des Autors, der Literatur und eine hohe Wertschätzung des Buches. Ich habe in verschiedenen deutschen Städten Lesungen gehalten, in Berlin waren mehr als 100 Menschen da. Das war sehr interessant: Ich habe ein Kapitel vorgelesen, und die Leute haben Fragen gestellt. So etwas gibt es in Brasilien nicht. Es ist eine interessante Reise, die mir gut tut.