1 subscription and 0 subscribers
Article

Menschen mit Behinderung fordern Solidarität

Jenny Bießmann will auch mit ihrem Rollstuhl in jeden Späti und zu jedem Bäcker kommen.

Echte Selbstbestimmung statt Diskriminierung: Menschen mit Behinderung und Sympathisanten demonstrieren seit Mittwochabend am Reichstagsufer gegen ein neues Gesetz, das am Donnerstag dennoch verabschiedet wurde.


Etwa 150 Demonstranten aus ganz Deutschland waren es am Mittwochabend. 25 Aktivistinnen und Aktivisten ketteten sich an das Geländer am Spreeufer schräg gegenüber vom ARD-Hauptstadtstudio. Darunter war auch Raúl Krauthausen, Berlins wohl bekanntester Aktivist für Menschen mit Behinderungen. Sie blieben die ganze Nacht, am Donnerstagmorgen ging der Protest ohne Ketten weiter.

Barrierefreiheit überall

Die Forderung der Demonstranten: Auch privatwirtschaftliche Anbieter sollen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz, das am Donnerstagmittag im Bundestag verabschiedet wurde, sieht vor, dass nur öffentliche Gebäude barrierefrei zugänglich sein müssen. „Ich komme in meinem Rollstuhl nicht in jede Bäckerei, in kaum einen Späti, nur in wenige Arztpraxen", sagt Jenny Bießmann, die an der Humboldt-Universität Erziehungswissenschaften und Gender-Studies studiert. Damit habe sie keine echte Wahlmöglichkeit, sondern sei fremdbestimmt. Und auch das neue Gesetz ändere ihre Situation nicht: „Wären die privaten Dienstleister auch zur Barrierefreiheit verpflichtet, müsste ich wenigstens an einer Stelle im Alltag weniger kämpfen."

Jeder kann betroffen sein

Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen vor allem auch eine breitere Öffentlichkeit für ihre Sicht der Dinge gewinnen. Das haben sie mit ihrer Protestaktion erreicht: „Die mediale Aufmerksamkeit ist enorm", sagt Bießmann. Trotzdem: „Menschen mit Behinderung sind wohl die größte Minderheit in Deutschland, die nicht politisch vertreten ist", sagt Hans-Joachim Szymanowicz aus Falkensee, der selbst mehrfach schwer behindert und mit einer gehörlosen Frau verheiratet ist. Mehr als 10 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Behinderung, drei Viertel davon gelten als schwerbehindert. Überall gibt es Barrieren: bei der Kommunikation, auf der Straße, auf Ämtern und in Privatwohnungen. „Bei meiner Frau ist zum Beispiel nie klar, wer den Gebärdendolmetscher bezahlt, wenn sie einen braucht. Das ist nicht gesetzlich geregelt", erklärt Szymanowicz.

Die Demonstranten betonen immer wieder, das von heute auf morgen jeder betroffen sein könnte: Barrierefreiheit ist nicht nur für Menschen mit Behinderung wichtig, sondern auch für Eltern mit Kinderwägen oder ältere Menschen. Durch Unfälle oder Krankheiten kann jeder von heute auf morgen in eine Situation kommen, in der Barrierefreiheit nicht mehr teurer Luxus, sondern notwendige Lebensgrundlage ist. „Solidarisiert euch", ist deshalb der Aufruf der Aktivistinnen und Aktivisten an alle Menschen.

Nächste Hürde: Teilhabegesetz

Nach dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz ist das Bundesteilhabegesetz die nächste große Gesetzeserneuerung; es soll zum 1. Januar 2017 in Kraft treten. Auch hier sind die Aktivistinnen und Aktivistinnen nicht zufrieden mit den derzeitigen Entwürfen, die vor knapp zwei Wochen veröffentlicht wurden. Es geht vor allem darum, dass Menschen mit Behinderungen nicht sparen dürfen: Nur 2600 Euro dürfen sie bislang auf ihren Konten haben, alles darüber wird prozentual auf die Pflegekosten angerechnet.

Das neue Bundesteilhabegesetz sieht vor, dass Menschen mit Behinderungen zwar mehr sparen dürfen, allerdings nur die in der Eingliederungshilfe. Das sind diejenigen, die zum Beispiel im Studium oder im Beruf auf Assistenten angewiesen sind. „Wer aber auch Hilfe für die Pflege benötigt oder gar 24 Stunden pro Tag auf eine Assistenz angewiesen ist, darf weiterhin nicht mehr als 2600 Euro besitzen", erklärt Bießmann. In anderen Fällen kommt es sogar zu Verschlechterungen: Bisher galt der Grundsatz ambulant statt stationär, mit dem neuen Bundesteilhabegesetz könnte es sein, dass vor allem Menschen mit einer 24-Stunden-Assistenz wieder ins Heim müssen. Weil das billiger ist. „Da kann man doch nicht von Selbstbestimmung sprechen!", sagt Bießmann. Sie und die anderen Aktiven vom Reichstagsufer werden weiterkämpfen, bis sie vollständig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können - ohne Barrieren.

Original