2 subscriptions and 1 subscriber
Feature

Zwischen Fremdenhass und Nächstenliebe – Ein Dorf übt Toleranz

Seit im April die ersten Flüchtlinge nach Tutow in Mecklenburg Vorpommern gekommen sind, ist Schluss mit der dörflichen Ruhe. Fremdenfeindlich ist hier niemand. Trotzdem wird die Toleranz gegenüber den Neuankömmlingen täglich auf die Probe gestellt.

„Die schmeißen Zigarettenstummel vom Balkon und schütten Flüssigkeiten runter“, erklärt eine aufgebrachte Tutowerin der Sozialarbeiterin Maryna Zaikina. Dabei streckt die wütende Mieterin immer wieder ihre Arme in die Luft und zeigt mahnend zur Fensterfront in der vierten Etage. Da wohnen „die“ nämlich. Flüchtlinge aus Eritrea und Mauretanien. Eine vierköpfige Männer-WG. „Wir sind nicht ausländerfeindlich, aber das geht nicht“, sagt die Frau und folgt Maryna Zaikina ins Gebäude.

Eine Rentnerin mit Rollator beobachtet die Situation. „Ich wohne hier nicht. Bei mir im Haus gibt es keine Flüchtlinge“, kommentiert sie die Szene fast ein bisschen erleichtert.

Von ländlicher Idylle und wirtschaftlichem Untergang

Wer als Tourist nach Tutow kommt, den erwartet augenscheinlich ein Anblick wie aus einer teuren Hochglanzbroschüre. Zwischen saftig grünen Feldern bettet sich seelenruhig das 1200-Einwohner Örtchen. Die Mittagssonne glüht auf die ziegelroten Dächer der gelb oder weiß gestrichenen Eigenheime. Die Hecken in den Vorgärten sind gestutzt, die Tannen in Dreiecksform getrimmt. Wie bei einer Fata Morgana verschwimmen die Wälder am Horizont mit dem wolkenlosen blauen Himmel.  Mohn– und Kornblumen wiegen sich in der warmen spätsommerlichen Luft an den Wegrändern. Die Straßen sind leer, keine Autos, kein öffentlicher Nahverkehr.  Gelegentlich ist das Motorengeheul der Lkws von der Bundesstraße 110 zu hören, die Richtung Autobahn fahren.

Es ist ein typisches Bild von Tutow gerade jetzt zum Monatsende. Das Geld ist knapp. Fast die Hälfte der Einwohner lebt hier ohne Arbeit. Der Parkplatz vor einem Sky-Markt, der einzigen Einkaufsmöglichkeit im Dorf, ist verlassen. Vereinzelt kommen Menschen zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Das was sie kaufen, tragen sie in ihren Händen raus.

Der Ort kämpft seit Jahren gegen den wirtschaftlichen Verfall. Die Konservenfabrik, die vor der  Wende bis zu 300 Menschen einen Arbeitsplatz bot und den berühmten „Tutower Senf“ produzierte, ist geschlossen. Auch der Ausbau des am Ortsrand gelegenen Flugplatzes zum Gewerbepark, der den ersehnten wirtschaftlichen Aufschwung bringen sollte, fand nie statt. Heute ist der Flugplatz in Privatbesitz. Flieger landen hier jedoch nur noch selten. Der Eigentümer hat die Start-und Landebahn wegen einer mehreren Hektar großen Photovoltaikanlage verkürzt.

Nur sechs Minuten pro Flüchtling

Maryna Zaikina ist auf dem Weg zur afrikanischen Männer-WG. Im Treppenhaus ruft ihr die aufgebrachte Mieterin noch eine letzte Beschwerde hinterher. „Die sollen auch Mal den Flur und die Treppe wischen“, hallt es durch den Aufgang bevor die Wohnungstür zuknallt. 

Oben wird die 36-Jährige freundlich per Handschlag begrüßt. Für die Flüchtlinge ist Maryna Zaikina Beamtin, Seelsorgerin aber auch Freundin. Sie trägt Jeans, eine rosa Hemdbluse und Turnschuhe. In ihrem blonden, schulterlangen Haar steckt eine orangefarbene „Ray Ban“-Brille. Insgesamt  kümmert sich die Sozialarbeiterin um 90 Asylsuchende im Landkreis Vorpommern-Greifswald. Die zierliche Frau hilft bei Behördengängen, organisiert Arztbesuche und unterstützt bei der Vermittlung von Kindergarten- und Schulplätzen. Sie weiß, wie es ist, fremd in einem Land zu sein, dessen Sprache man nicht beherrscht. Sie ist gebürtige Ukrainerin. Deswegen nimmt sich Maryna Zaikina auch gern mal etwas mehr Zeit, wenn es die Termine zulassen. Offiziell bleiben ihr nämlich nur „sechs Minuten pro Person“.

Die Wohnung der Männer ist spärlich eingerichtet. Von einem kleinen Flur mit orangefarbenen Wänden und Laminatboden gehen vier Zimmer ab: Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Es gibt zwei Betten, zwei Kleiderschränke, einen Holztisch mit vier Stühlen und einen Fernseher. Grundausstattung für die Asylsuchenden. Alles weitere bekommen sie über Spenden.

Maryna Zaikina schaut sich auf dem Balkon der Wohngemeinschaft um. Bis auf einen Wäscheständer mit Handtüchern nichts Auffälliges, dass die Vorwürfe der Nachbarin bestätigt. Auf die Frage, wo die Reste der Zigaretten landen, zeigt ihr ein Mann einen weißen Blumentopf, der als Aschenbecher umfunktioniert wurde. Auch gegessen und getrunken werde ausschließlich im Wohnzimmer, erklärt ein weiterer Mitbewohner mit mäßigen Englischkenntnissen der Sozialarbeiterin.

Maryna Zaikina notiert sich alles in einem roten Notizbuch, das sie stets dabei hat. Anschließend macht sie mit ihrem Handy Fotos. Bevor sie sich von den Afrikanern verabschiedet, erklärt sie ihnen noch den monatlichen Putzplan. Sie nicken der 36-Jährigen zustimmend zu. Dabei besitzen die Vier nicht einmal einen Wischmob. Vielleicht ist bei der nächsten Spendenausgabe einer dabei.  

Flüchtlingsleben in der Platte

Das Handy klingelt. Der nächste Termin steht an. „Meinen Tag kann ich nicht planen. Es kommt immer etwas dazwischen“, sagt Maryna Zaikina und schmeißt ihre dunkelblaue Umhängetasche auf den Rücksitz ihres Autos. Diesmal wird sie an den Pommernring gerufen – der Plattenbausiedlung des Ortes.

Bis 1994 waren hier russische Soldaten stationiert. Nach ihrem Abzug standen die 484 Wohnungen größtenteils leer. Seit April dieses Jahres sind sie das neue Zuhause für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine. In der Siedlung ist die DDR noch allgegenwärtig. Die rot-grauen Steinkolosse sind teilweise so ineinander verschachtelt, dass der Anblick an das Spiel Tetris erinnert. Die fünfstöckigen Wohnkomplexe haben jeweils sieben Aufgänge. Vor jedem Eingang ragt der massive Betonmast einer DDR-typischen Rundscheibenleuchte gen Himmel. Um den grauen Einheitslook wenigsten ein bisschen zu entkommen, hat jeder Mieter seinen Balkon individuell farblich gestaltet –  in mintgrün, babyblau, rot oder pink. Dazu schützen orange-gelb gestreifte Markisen vor neugierigen Blicken der Nachbarn. Im Innenhof sind meterlange Wäscheleinen gespannt. Es gibt einen Fußballplatz, Grünflächen zum Sitzen und einen großen Sandkasten.

Randale, Flaschen-Würfe und rechte Parolen

Bis vor kurzem haben hier noch Kinder gespielt und Erwachsene sind spazieren gegangen. Jetzt bleiben sie lieber in ihren Wohnungen, beobachten jeden Fremden misstrauisch vom Balkon aus. Denn vor zwei Wochen kam es am Pommernring zum ersten fremdenfeindlichen Übergriff auf Flüchtlinge.

Betrunkene randalierten nachts in den Asylunterkünften. Sie schmissen Bierflaschen auf die Balkone, schlugen an Türen, grölten rechte Parolen. Einer der Männer soll sogar in Tutow wohnen, die zwei anderen stammen aus einer nahegelegenen Ortschaft.  

Ein Ukrainer filmte die Szene vom Balkon aus. Die Polizei beschlagnahmte sein Handy. Die einzige Kontaktmöglichkeit zu seinen Angehörigen in der Heimat einfach weg.

Maryna Zaikina wird sich darum kümmern, dass ihr Landmann so schnell wie möglich wieder mit seiner Familie in der Ukraine telefonieren kann. Doch so lange die Ermittlungen gegen die nächtlichen Unruhestifter laufen, muss er sich gedulden.   

Die studierte Juristin hetzt zu ihrem nächsten Termin bei Natalja und Albert. Das Paar aus der Ukraine wohnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im fünften Stock des Plattenbaus. Bereits im vierten schallt ein herzliches „Strastwuitje“ der Besucherin entgegen. Sie führen Maryna Zaikina in den größten Raum – der Schlaf- und Wohnbereich in einem ist. Hier stehen ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Fernseher. Die gleichen Möbel wie schon bei den afrikanischen Flüchtlingen.

Natalja bietet Kaffee und Tee an. Sie ist eine typische Osteuropäerin. Gastfreundlich und sehr bedacht auf ihr Äußeres. Das helle blonde Haar ist ordentlich zu einem Zopf zusammengebunden. Ihre Lippen glänzen rot, auf ihren Wangen schimmert Rouge und ihre Augenbrauen sind korrekt nachgezogen. Ihr Ehemann und Maryna Zaikina sitzen sich am Tisch gegenüber. Vor ihnen liegen Behördenschreiben, Wörterbücher und Vokabelhefte.

Flucht vor Terror, Hunger und Armut

Der Krieg im Donbass zwang die beiden vor ein paar Monaten zur Flucht. „Wir hatten Angst in unserer Heimat“, erzählt Albert. Immer wieder sei es im Alltag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen pro-russischen Separatisten und Pro-Ukrainern gekommen. „Eine Frau wurde im Bus als Faschistin bezeichnet, weil ihr Sohn für Petro Poroschenko in den Krieg zog und starb“, sagt er, „Sie wurde geschlagen und die Menschen schauten zu.“

Terror, Hunger und Armut – es gibt unterschiedliche Gründe für Menschen ihr Land zu verlassen, um in Frieden weiterzuleben. Auch Maryna Zaikina kennt die traurigen Schicksale ihrer Neuankömmlinge. Besonders nahe geht ihr die Vergangenheit eines kurdischen Journalisten aus Syrien, der monatelang im Gefängnis gefoltert wurde. Er verlor ein Auge und seine inneren Organe sind so sehr geschädigt, dass er ständig auf ärztliche Hilfe angewiesen ist

Deutschlands große Herausforderung

Die Bundesregierung rechnet bis zum Ende des Jahres mit bis zu 800 000 Flüchtlingen in Deutschland. Davon werden gut 16 000 in Mecklenburg Vorpommern erwartet.

Maryna Zaikina kümmert sich im Landkreis Vorpommern-Greifswald um 90 Asylsuchende – erlaubt sind 80 pro Sozialarbeiter. Doch der bundesweite Flüchtlingsansturm zwingt die Behörden zum Improvisieren. „Es ist für uns eine Herausforderung aber wenn wir alle zusammenarbeiten, ist alles machbar“, meint sie.

Natalja und Albert fühlen sich wohl in ihrer neuen Heimat Tutow. Trotz Sprachschwierigkeiten mischen sie sich regelmäßig unter die Gemeinde. Sie singen im Kirchenchor und besuchen die Heimatstube im Ort zum Klönen mit den Einheimischen.

Der Wille für eine gemeinsame Zukunft ist da, die Offenheit auch – auf beiden Seiten. Denn auch das kleine Dorf in Mecklenburg Vorpommern will zeigen, wofür die Mehrheit in Deutschland steht: TOLERANZ.