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Ungeahnte Hürden: Im Rollstuhl durch Ellwangen

Ellwangen - Erst ist es nur ein Auto, dann zwei, schließlich drei. Die Schlange auf der Straße wird immer länger, die Schweißperlen auf meiner Stirn immer dichter. Keiner hupt, aber aus dem Augenwinkel glaube ich, ungeduldige Blicke zu sehen. In meinem Rollstuhl stehe ich mitten auf der Fahrbahn. Vor mir eine Bordsteinkante, so niedrig, dass ich sie als Fußgängerin nie bemerkt hätte. Ich fahre zurück, nehme Anlauf und versuche das Hindernis noch einmal zu überwinden. Beim vierten Versuch schaffe ich es. Meine Muskeln brennen, die Oberarme zittern.

Es gibt so Momente, da fühlen sich Sekunden an wie Stunden. Das gerade war so einer. Nicht wirklich gefährlich, aber doch furchtbar unangenehm. „Das sind genau die Erlebnisse, die viele Rollstuhlfahrer dazu bringen, zu Hause zu bleiben und nicht selbstbestimmt zu leben“, erklärt mein Begleiter Werner Rieger mir später, als wir nebeneinanderher rollen. Werner ist 53 Jahre alt und seit einem Unfall querschnittsgelähmt. Er zeigt mir heute, wie es ist, im Rollstuhl zu sitzen. Welche Hürden müssen Rollstuhlfahrer tagtäglich meistern und wo hakt’s in Ellwangen?

Weitblick ist gefragt

Wir starten am Schießwasen. Unser Ziel: die Innenstadt. Unbeirrt rolle ich los, den Weg bin ich schließlich schon oft gelaufen. Dass der schon zwei Ecken weiter in einer Treppe mündet, ist mir dabei nie bewusst aufgefallen. Erst als ich das blaue Schild mit einem Rollstuhl drauf sehe, das genau in die andere Richtung weist, dämmert es mir. Erste Lektion: Wer mit dem Rollstuhl unterwegs ist, braucht Weitblick. Einfach der Nase nach ist nicht. Wir nehmen also den Umweg.

Ich bin nicht besonders sportlich, aber dass ich schon nach so kurzer Zeit meine Strickjacke ausziehen muss, weil ich dermaßen ins Schwitzen gerate? Das hätte ich nicht gedacht. Jede noch so kleine Unebenheit, jeder Hügel strengt mich an. Das Kopfsteinpflaster, das ich sonst immer nostalgisch-schön fand, verfluche ich heute. Denn darüber zu fahren, fordert nicht nur meine doppelte Kraft, sondern schüttelt meinen Körper auch komplett durch.

Kurze Mitleidspause

Als wir schließlich den Berg am Landgericht hoch zum Marktplatz fahren, habe ich das Gefühl, mein Rollstuhl kippt gleich nach hinten um. Werner hat Mitleid, und wir legen eine Pause ein. Ob er sich solche Berge auch mal hochschieben lässt, will ich völlig außer Atem von ihm wissen. „Meistens sehe ich es als Training“, sagt er und grinst.

Werner spielt Rollstuhlbasketball und ist dementsprechend fit. Mit Leichtigkeit überquert er Hindernisse, an denen ich verzweifle. Stellt sich ihm eine Bordsteinkante in den Weg, nimmt er Anlauf und verlagert das Gewicht nach hinten, sodass sich die Vorderräder heben.

Sein Rollstuhl und er, sie wirken wie eine eingespielte Einheit. Dabei haben sich die beiden damals nach Werners Motorradunfall nur langsam angefreundet. Obwohl das Laufen mit Krücken für ihn enorm anstrengend war, nahm er die Strapazen anfangs auf sich. „Wenn du dich in den Rollstuhl setzt, gestehst du dir deine Behinderung ein. Das braucht Zeit“, erklärt er. Heute sieht er den Rollstuhl als Fortbewegungsmittel, nicht mehr, nicht weniger. Die neugierigen Blicke, die uns folgen: Für ihn sind sie längst Alltag.

Kleine Stufen, große Hindernisse

Rund um den Marktplatz ist der Asphalt angenehm eben und flach. Doch das nächste Hindernis lässt nicht lange auf sich warten: Die circa 15 Zentimeter hohe Steinkante trennt Marktplatz und Straße und soll dafür sorgen, dass sich kein Auto auf den Platz verirrt. Für uns bedeutet sie allerdings, dass wir mit dem Rollstuhl einen ziemlich großen Schlenker machen müssen, um vom Marktplatz zu kommen. „Hier hätte man stattdessen Poller aufstellen können“, meint Werner. Zumal der Behindertenparkplatz genau gegenüber ist.

Mittlerweile ist unsere Runde größer geworden. Eva-Margret Eiseler – ebenfalls auf vier Rädern unterwegs – hat sich zu uns gesellt. Die 90-Jährige macht mit ihrem Rollator Besorgungen in der Stadt. „Ich kenne viele, die hier schon drüber gestolpert sind“, sie zeigt auf die Kante und schimpft: „Das ist einfach nicht genügend gekennzeichnet.“

„Schrittgeschwindigkeit fahren“

Unsere Tour geht weiter, und mit der Zeit werde ich mutiger. „Schrittgeschwindigkeit fahren“, trägt der Fahrtwind mir Werners Worte hinterher, als ich den Berg vom Marktplatz runter in die Marienstraße rausche. Es ist ein heißer Tag, also beschließe ich, uns Eis zu holen. Vom Rollstuhl aus scheint die Eistheke übermächtig hoch. „Hallo?“ Damit mich der Eismann bemerkt, muss ich rufen.

Schließlich fahren wir schleckend die Marienstraße entlang. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass fast die Hälfte der Geschäfte Stufen vor ihren Eingängen hat. „Architektonisch macht das natürlich mehr her“, schmunzelt Werner. Nach drei Stunden in der Stadt bin ich ganz schön kaputt, deshalb wollen wir den Stadtbus zurück zum Schießwasen nehmen. Schließlich hat der eine Rampe, die der Busfahrer für Rollstuhlfahrer auslegen kann. Doch wir sind nicht die einzigen, und Platz für drei Rollis gibt’s im Bus nicht. Also ist doch noch mal anstrengen angesagt.

Unverhoffte Hilfe

Zum Glück begegnen uns in der Unterführung drei Jugendliche. „Sollen wir helfen?“, fragen sie. „Die Dame freut sich sicher“, neckt mich Werner. Doch da schieben sie uns schon rennend den Berg hoch. Ich bin heilfroh über die Unterstützung, mir tun Arme und Brustmuskeln dermaßen weh, dass ich sicher noch die nächsten Tage etwas davon haben werde. Für den Perspektivenwechsel bin ich trotzdem dankbar. Ob er als Rollifahrer genauso am Leben teilhaben kann wie andere, frage ich Werner am Ende unserer Rundfahrt. Er überlegt kurz. „Ich kann überall hin, wenn ich will. Wenn ich wollte, würde ich auch einen Weg aufs Ulmer Münster finden“, sagt er schließlich und fügt lachend hinzu. „Würde halt ein bisschen länger dauern als bei dir.“