Wangen – Trachten, Schuhplatteln, Volkstanz? Langweilig! Erst recht für junge Leute. Das dachte ich zumindest immer. Ich bin 27 Jahre alt und Tanzen bedeutet für mich in der Disko abzappeln. Beste Voraussetzungen also, um einen Abend bei dem Wangener Heimat- und Trachtenverein D’Argentaler zu verbringen.
Mir ist schwindelig. Ich versuche, einen Punkt auf dem Boden zu fixieren, um das Karussell in meinem Kopf zu stoppen. Seit Minuten drehe ich mich um meine eigene Achse. Die rechte Hand auf der Hüfte, auf den Lippen ein graziles Lächeln – zumindest soll es so aussehen. Im Hintergrund spielt das Akkordeon ein Volkslied.
Es ist Freitagabend 20 Uhr, Training beim Heimat- und Trachtenverein D’Argentaler. Ich stehe - Verzeihung, drehe mich - mit fünf anderen Frauen auf der Bühne im Vereinsheim. In unserer Mitte tanzen die Männer einen Schuhplattler. Platteln mit Dirndln nennt sich das.
Was mich ganz schön ins Straucheln bringt, ist für die Damen im Verein, die leichteste Übung. Kein Wunder, denn die meisten sind schon seit Kindertagen dabei. Einmal die Woche treffen sie sich in der urigen, kleinen Blockhütte, die von den Mitgliedern 1987 selbst gebaut wurde. Im Inneren: Möbel im Stil Eiche-Rustikal und Geweihe an der Wand.
Konrad Bentele ist der erste Vorplatter der Argentaler. Mit ihm habe ich mich heute Abend verabredet. In meiner Vorstellung war Konrad jenseits der 50, hatte einen kunstvoll gezwirbelten, grauen Bart und einen kleinen Bierbauch.
Als Konrad auf mich zukommt, muss ich meine Vorurteile über Bord werfen. Konrad ist 31 Jahre alt und schlank. Jemand, den ich heute Abend eher in der Disko erwartet hätte. Wäre da nicht die Tracht, die er trägt.
Konrad plattelt seit er sieben Jahre alt ist. Der Verein: Für ihn gar nicht mehr wegzudenken aus seinem Leben: „Gehört einfach dazu.“ Genauso ist es bei seiner Familie. Eltern, Bruder, Schwägerin, Cousin, alle sind dabei. „Das ist bei vielen so. Wir sind ein Familienverein.“
Freitagabend trifft sich die ganze Argentaler-Familie im Vereinsheim. Hier proben sie für kommende Auftritte. Als Vorplattler gibt Konrad den Takt an. Das Akkordeon setzt ein, ein zünftiger Schrei gibt das Startsignal und die Männer, die im Kreis auf der Bühne stehen, beginnen zu platteln.
Füße stampfen, Hände segeln auf Oberschenkel und Schuhsohlen und dazwischen immer wieder Sprünge. Dass alles passiert in einem derart schnellen Tempo, dass meine Augen die Choreografie dahinter nicht erfassen können. Eine ziemlich wilde Angelegenheit, die übrigens den Männern vorbehalten ist.
Nach drei Plattlern steht Konrad der Schweiß auf der Stirn. Er nimmt einen kräftigen Schluck Bier. Stimmengewirr, Lachen, Gläserklirren. Alle haben sich am langen Tisch versammelt. In Jeans und stinknormalem Pulli komme ich mir unter den Trachtenträgern fast ein bisschen blöd vor. Die Frauen tragen aufwendige Dirndl, die Männer grüne Lederhosen mit bestickten Trägern. Hier im Allgäu kein ungewohnter Anblick, anderswo dagegen sind die Argentaler echte Exoten. „Bei unserem letzten Berlin-Ausflug, wollten die Touristen ständig Fotos mit uns“, erzählt Konrads Cousin Andreas. Wen interessiert schon das Brandenburger Tor, wenn ein echter Allgäuer in Lederhosen vor die Linse läuft?
Mittlerweile ist es 23 Uhr. Das Karussell in meinem Kopf ist inzwischen stehen geblieben. Zeit, es ein letztes Mal zu versuchen. Der finale Tanz des Abends heißt Mühlrad. Mir schwant Übles. Und tatsächlich: Wieder einmal drehe ich mich im Kreis. Diesmal allerdings im Walzerschritt mit Konrad. Meine Füße machen nicht, was Konrad von ihnen will. Und darunter leiden seine Zehen. „Komm, die überholen wir schnell“, höre ich und ein Tanzpaar schwingt galant an uns vorbei. Mir wird schmerzlich bewusst: Nicht umsonst habe ich den Tanzkurs mit meinem Freund geschmissen.
Nach drei Endlos-Minuten stoppt die Musik. Alle klatschen und gucken mich anerkennend an. Ich hätte eher mit faulen Tomaten und Buhrufen gerechnet. „Mensch, komm doch nächsten Freitag wieder!“ höre ich von allen Seiten. Nach nur einem Abend fühle ich mich bereits, als wäre ich schon 20 Jahre Mitglied, so herzlich sind die Menschen. Wer weiß, vielleicht werde ich ja tatsächlich noch ein Argentaler?
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