1 subscription and 5 subscribers
Article

Deutschland steuert London

Bild: Transport for London

London. Im Kopf poppen die Klischees auf: Bobbys, Fellmützen-Soldaten, Tower-Bridge, rote Telefonzellen - und rote Doppeldeckerbusse.

Letztere sind nicht einfach nur da: 7.500 transportieren täglich 6,5 Millionen Passagiere, doppelt so viele wie die örtliche U-Bahn. Es ist das vielleicht komplexeste Bussystem der Welt und doch in Echtzeit abfragbar, so dass man jederzeit sieht, wann der nächst Bus kommt. Möglich macht das die Technik im Hintergrund - und die ist made in Germany.

Die roten Doppeldecker richten sich nach dem Programm der IVU Traffic Technologies AG und ihrer Niederlassung in Aachen. "Ausgangspunkt für das Projekt war es, Haltestellen mit festinstallierten Haltestellenanzeigen zu versorgen", sagt Dr. Claus Dohmen, Produktmanager bei der IVU. Das Unternehmen unterstützt seit 35 Jahren Verkehrsanbieter darin, den öffentlichen Nahverkehr pünktlicher und zuverlässiger zu machen. 400 Ingenieure arbeiten für das börsennotierte Unternehmen.

"London war allein durch die schiere Größe etwas Besonderes", sagt Dohmen. "Es ist weltweit sicherlich eines der größten Informationsprojekte, was die Anzei ge von Fahrplandaten angeht." 19.000 Haltestellen gibt es in London. 2.500 davon haben eine elektronische Haltestellenanzeige, die angibt, wann der nächste Bus kommt und welche Route er fährt. Zudem kann Trans port for London (TfL), so heißen die Verkehrsbetriebe der Stadt, beliebige Nachrichten einblenden und so Fahrgäs te über wichtige Vorkommnisse, beispielsweise einen Unfall auf der Strecke, informieren.

In einer Stadt wie London sind Verkehrsinformationen dieser Art von besonderer Bedeutung. Lohnt es sich auf den Bus zu warten oder soll man doch lieber ein Taxi zum nächsten Termin nehmen? Auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, war lange Zeit an vielen Orten unmöglich, auch wenn die ersten Anzeiger bereits in den 90er Jahren installiert wurden. Aber rechtzeitig vor den Olympischen Sommerspielen 2012 in London hat TfL aufgerüstet. Waren es am Anfang des IVU- Projekts hauptsächlich die stationären Haltestellenanzeigen, die einem Informationen lieferten, ist es unterdessen möglich, an jeder Haltestelle Businformationen abzurufen.

Das System IVU Realtime hält ständig eine realistische Abfahrtszeit für alle 8.500 Busse und 19.000 Haltestellen bereit. Wo sich der Bus befindet, weiß das System dank des GPS-gestützten Systems iBus, das seit 2006 in Londoner Bussen verbaut wird und TfL die Möglichkeit gibt, ständig zu wissen, wo sich alle ihre Busse gerade befinden. Fährgäste können die Informationen per SMS, im Internet über m.tfl.gov.uk oder aber mit einer der vielen Apps abrufen, denn unterdessen bietet TfL mit Hilfe der IVU-Software eine offene Daten-Schnittstelle an, die es jedem Bürger ermöglicht, auf die Daten in Echtzeit zuzugreifen, eigene Angebote ins Internet zu stellen, Apps anzubieten und mit den Daten kreativ umzugehen.

"Die Hauptherausforderung für uns bestand dabei, auf allen Ausgabegeräten - ob an der Haltestellenanzeige, per SMS oder auf dem Handy - die gleichen Informationen zur gleichen Zeit anzubieten, denn nichts ist schlimmer als wenn die Haltestellenanzeige etwas anderes sagt als das Handy", sagt Dohmen. "Das ist schlimmer als gar keine Informationen zu liefern."

Dabei ist das System einer gewaltigen Last ausgesetzt. Zwischen 8 und 19 Uhr muss es im Durchschnitt 60 Anfragen pro Sekunde verarbeiten, zu Spitzenzeiten auch schon mal 200. Dazu übernimmt IVU Realtime bis zu 5.000 Aktualisierungsmeldungen pro Sekunde von iBus und stellt diese mit maximal 2 Sekunden Verzögerung konsistent allen angeschlossenen Informationskanälen zur Verfügung.

Dass London überhaupt eine offene Schnittstelle hat, die es jedem ermöglicht, auf die Echtzeitdaten zuzugreifen, ist nicht selbstverständlich. Viele andere europäische Städte sind da zurückhaltender. "Dahinter steckt in London eine politische Entscheidung. TfL bietet die Datenschnittstelle an, weil die Politik das so wollte", sagt Dohmen. "Es gibt einen generellen Trend, dass die Politik offene Daten als Maßnahme hin zu mehr Transparenz fördert. Die EU-Kommission und der US-Präsident haben Initiativen gestartet, um den freien und offenen Zugang zu Daten zu unterstützen."

Für Verkehrsbetriebe führe das zu einem gesteigerten Druck, ihre Daten öffentlich zugänglich zu machen. Dies war auch bei TfL der Fall und so startete Bürgermeister Boris Johnson, der gleichzeitig Vorstandsvorsitzender von TfL ist, 2010 eine "Open-Data-Initiative" für London. "Für die Politik ist es von Vorteil, Daten öffentlich zu machen", sagte Johnson (unten im Bild) damals. Man schaffe eine Situation, in der jeder demokratisch gleichberechtigt im Besitz der Daten sei, die bislang nur die öffentliche Hand zur Verfügung gehabt habe.

Doch auch bevor es das Open-Data-Projekt gab, nutzten Entwickler Daten von TfL, allerdings ohne deren Erlaubnis. Sie extrahierten Daten der TfL-Website, in dem sie sich des so genannten "Screen Scraping" bedienten. Die Entwickler hatten Programme geschrieben, die automatisch Anfragen an die Website schickten, um dann die erforderlichen Daten auszulesen.

Das belastete die Server von TfL ungemein. Und: Die Korrektheit der Daten war keineswegs gesichert. Sobald TfL seine Website änderte, mussten die Entwickler ihre Programme umschreiben. Es begann ein unsinniger Wettlauf. Kaum waren die Daten mittels offener Schnittstelle frei verfügbar, ging auch die Last auf der Website von TfL um 50 Prozent zurück. Die Gemeinde der Verkehrsenthusiasten und Entwickler hatte das Angebot sofort angenommen.

Dabei achtete TfL von Anfang an darauf, den Zugang niederschwellig zu halten. TfL stellt kaum Bedingungen, wenn man die Daten nutzenmöchte. "Nutze unsere Daten, aber tu nicht so, als wärst du wir", steht auf der Website von TfL. "Das ist eines der Risiken, die Verkehrsunternehmen eingehen, wenn sie offene Schnittstellen zur Verfügung stellen: Der Kunde könnte den Eindruck gewinnen, es handle sich um ein Angebot des Verkehrsunternehmens und nicht eines Drittanbieters", sagt Dohmen. "Aber es gibt auch viele Vorteile. Mit dem Zugänglichmachen der Daten erreicht ein Verkehrsunternehmen einen großen Pool von Ideen und Anbietern, die den öffentlichen Nahverkehr mit ihrer Software verbessern wollen - und das völlig kostenlos."

Allerdings habe man keine Kontrolle über die Qualität der Angebote. Die Erfahrung in London hat allerdings gezeigt, dass sich der Markt schnell selbst reguliert. Unterdessen liegt die Anzahl der Apps, die beim Navigieren durch den Londoner Nahverkehr helfen wollen, im dreistelligen Bereich. Mit Citymapper, NextBuses, TravelDeluxe oder Nearest Bus muss man nicht mehr an der Haltestelle warten, sondern weiß, dass man besser noch zehn Minuten im Pub bleibt.

Kaum eine andere Metropole bietet so viele Informationen rund um ihr Verkehrsnetz, kaum ein Londoner, der nicht mindestens ein oder zwei Apps auf seinem Smartphone installiert hat. Und nicht nur die Londoner profitieren davon. Die Stadt, die jährlich mehr als 16 Millionen Besucher hat, bietet so auch ihren Gästen einen guten Service an, der vielleicht hilft darüber hinwegzusehen, dass ein Bus mal wieder nicht kommt.

Original