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Der Grüne Drache

Im Reich der Mitte existieren verwunschene Landschaften. Aber in den aufstrebenden Regionen leistet sich das Land unvorstellbare Umweltsünden. Seit Kurzem beginnen sich Umweltschützer in den Städten und Dörfern neu zu organisieren.

Erschienen in natur 08/2013

Nur ein Fußweg führt zu dem weißen Gebäude mit geschwungenem Dach, vorbei an einem leeren Teich, verwelkten Ranken und Gestrüpp. Das Haus steht im hintersten Winkel der Peking-Universität, einer der renommiertesten Lehranstalten Chinas. „Das hier ist der wildeste Teil des Campus“, sagt Sun Shan beim Blick aus dem Fenster des Gebäudes. Darin hat die Uni der Naturschutzorganisation Shanshui Conservation Center ein paar Räume überlassen, deren Direktorin die 38-Jährige (siehe Foto) ist. Irgendjemand wolle immer das scheinbar nutzlose Areal aufhübschen und die Pfade zementieren, erzählt Sun und lacht. „Wir argumentieren dann, dass diese Nutzlosigkeit doch sehr nützlich ist.“ Zum Beispiel das Gebüsch am Wegesrand, in dem Vögel nisten können – von denen auf dem Campus laut Sun immerhin 140 Arten leben.

Natur ist für Sun Shan überall, und sie steht im Zentrum ihrer Arbeit. Shanshui will die Wälder und Landschaften im Westen Chinas bewahren. In Dutzenden von Projekten auf dem tibetischen Plateau und in den südwestlichen Bergregionen bildet die Organisation lokale Umwelt-Patrouillen aus oder bringt den Menschen in den Bambuswäldern bei, wie sich ihr Naturhonig besser verkaufen lässt.

„Shanshui“ heißt wörtlich „Berge und Wasser“, es ist ein altes chinesisches Wort für wilde Natur. Die breitet sich vor allem in Chinas Westen aus - mit seinen Bambuswäldern, den weitläufigen Hochplateaus, auf denen stahlblaue Seen im Sonnenlicht glänzen, den zerklüfteten Gebirgen voll tiefer schroffer Schluchten und den nebligen, bewaldeten Hügelregionen. Der Osten hingegen läuft flach zum Pazifik aus, ist dicht besiedelt - und stark mit Industrieabwässern, Dünger, Pestiziden und Müll belastet. Nach einer Studie des Ministeriums für Land und Rohstoffe, die in 182 Städten durchgeführt wurde, gelten drei Viertel des Grundwassers als stark verschmutzt. Nicht einmal Tiere sollten davon trinken.

Immer dreckiger ist auch die Luft. Erst im Januar hing eine gigantische Smogwolke über Nordchina. Sie bedeckte knapp 1,4 Millionen Quadratkilometer - mehr als das Vierfache der Fläche Deutschlands. In Peking lagen die Feinstaubwerte wochenlang ein Vielfaches über den von der Weltgesundheitsorganisation WHO verlangten Grenzwerten. Zwar beginnt die Regierung zu handeln und erlässt Umweltgesetzte, schafft Naturparks und ruft zum Wassersparen auf. Doch Chinas rasantes Wirtschaftswachstum frisst viele ökologische Fortschritte wieder auf.

Ministerpräsident Li Keqiang, seit März im Amt, gelobt nun, „noch entschlossener zu sein und noch mehr Anstrengungen zu unternehmen“, um die Luftverschmutzung zu bekämpfen. Es wird allerdings dauern, bis Details zu den Plänen von Li und seiner neuen Mannschaft bekannt werden. Vor Amtsantritt geben die Neuen nichts zu Ihren Plänen bekannt. Und dann müssen sie ihre Macht sichern. Frühstens in ein paar Monaten rechnen Experten mit konkreten Plänen.

Seit langem protestieren Bürger in ihren Dörfern gegen lokale Müllkippen oder Chemieunfälle. Oft erfuhr kaum jemand in den Städten davon. Doch seit einigen Jahren organisieren sich die Menschen in weiten Teilen des Landes, und ihre Gruppen wachsen stetig. Mit 30 Festangestellten gehört Shanshui laut Sun zum größten Drittel unter den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in China. Zurzeit wachsen die Organisationen, zumal die Menschen zunehmend über Umweltskandale sprechen.

Seit einiger Zeit beginnen die Chinesen, sich öffentlich zu artikulieren. Im Internet bot kürzlich ein Geschäftsmann aus Ruian, einer Stadt an der Küste des Ostchinesischen Meeres, einem Umweltbeamten des Ortes 200.000 Yuan (knapp 25.000 Euro) für einen Schwimmausflug im nahen Fluss, der mit Hausmüll und Gummiresten einer Reifenfabrik verseucht ist. Was der Beamte natürlich nicht annahm. Andere klagten im Web über den Pekinger Smog, den sie "Airpokalypse“ oder „Airmaggedon“ nannten, und forderten die Regierung zu Taten auf. Der Pekinger Immobilienmagnat Pan Shiyi forderte im Netz eine Reform des zu laxen Gesetzes zur Luftreinhaltung - und 57.000 Mikroblogger registrierten sich als Unterstützer. Pan hatte schon 2012 durch eine Internet-Kampagne dafür gesorgt, dass die Stadtregierung nun mehrmals täglich die Feinstaubbelastung in Peking bekannt gibt. Inzwischen folgen 20 Städte diesem Beispiel.

Diese Art der Teilhabe ist nach Ansicht der Naturschützerin Sun Shan entscheidend dafür, ob es gelingt, in China das Ruder herumzureißen. „Es ist ganz wichtig, die lokale Bevölkerung ins Boot zu holen und ihr traditionelles Wissen zu nutzen“, sagt sie. Sie sollten erleben, wie sie selbst vom Naturschutz profitieren. Man verlasse sich in China zu oft auf naturwissenschaftliche Lösungen. Bedürfnisse und Kenntnisse der Menschen vor Ort würden oft ignoriert. „Wir sagen immer: Alle tibetischen Nomaden sind Experten", erzählt sie. "Eine junge Frau, die morgens um fünf aufsteht, um auf der Hochebene ihre Yaks zu melken, weiß alles über das lokale Klima und die lokale Vegetation.“

Sun erzählt aus Cuochi, einem entlegenen Ort auf dem tibetischen Hochplateau, dessen 400 Haushalte sich auf 240 Quadratkilometer verteilen. Cuochi liegt im riesigen Naturschutzgebiet mit Namen „Quelle der Drei Flüsse“ - es umfasst das Quellgebiet von Jangtse, Gelbem Fluss und Mekong, dreien der mächtigsten Ströme Asiens. In Cuochi bildete Shanshui 39 tibetische Bauern zu Natur-Aufsehern aus, die Wild und mögliche Zerstörungen wie zum Beispiel durch illegalen Bergbau aufspüren sollen, damit die Tiere gezielt geschützt und der Raubbau an der Natur gestoppt werden kann. Shanshui stattete die Patrouillen mit Pferden und Motorrädern aus. „Diese Menschen haben ein starkes Bewusstsein für die Natur, aber sie hatten zuvor keine Ahnung, ob man sie beim Naturschutz gebrauchen kann - und wofür“, sagt Sun.

Die Verwaltung des Naturschutzgebiets gab den Männern offizielle Siegel und übernahm die Idee dann in anderen Dörfern. „Früher sahen die Schutzgebiets-Manager die Dörfer und ihre Bewohner als Gegner, die es zu kontrollieren gilt“, sagt Sun - etwa, indem man sie zwang, Herden zu verkleinern oder in Kleinstädte umzuziehen. Nun seien sie selbst Teil der Lösung!

Rund um das bestehende Schutzgebiet richtete Peking kürzlich zudem eine noch größere „Ökologische Sonderzone“ mit einer Fläche von sagenhaften 400.000 Quadratkilometern ein. Dort sollen neue Methoden des Naturschutzes ausprobiert werden. Festgeschrieben wurde unter anderem, dass der Naturschutz unter Führung Einheimischer umgesetzt wird. „Das gab es noch nie“, sagt Sun. „Und vielleicht haben wir ein wenig dazu beigetragen.“

1994 wurde Chinas erste Umwelt-Gruppe „Friends of Nature“ gegründet. Sie setzte sich unter anderem erfolgreich für die Rettung der tibetischen Antilope ein - vor allem mithilfe von Kampagnen bei westlichen Konsumenten, die edle Schals aus der Antilopenwolle kauften. Seither entstanden im ganzen Land kleinere lokale Gruppen, außerdem eröffneten internationale Organisationen wie Greenpeace oder dem WWF Büros in China. Shanshui gibt es seit 2006. Aktivisten bescheinigen ihren Mitbürgern, dass sie sich zunehmend der Umwelt bewusst werden.

Ob und wann Chinas Umweltbewegung jedoch zu einer echten politischen Kraft wird, ist offen. „Die politische Lage von NGOs ist noch immer heikel“, sagt Sun Shan. Sie glaubt nicht, dass der Aufbau von Zivilgesellschaft und Bürgerbewegungen in China dem Muster des Westens folgt. „Kulturell bedingt warten Chinesen eher auf Lösungen von oben“, sagt sie. Der Staat soll die Lösungen vorgeben: So, wie Peking vor einigen Jahren im Kampf gegen Plastikmüll den Händlern verbot, kostenlos Plastiktüten an die Kunden herauszugeben. Vielleicht finden die Chinesen aber ganz neue, eigene Wege sich zu organisieren, meint Sun – „wie in den vielen selbst organisierten Rettungsaktionen nach dem Erdbeben in Sichuan.“ Nach dem Beben vom Mai 2008, bei dem 80.000 Menschen starben, reisten spontan vor allem Studenten in die zerstörte Region, wo sie spontan Dutzende Hilfsprojekte initiierten. Zehntausende spendeten für die Opfer. Diese Bewegung gilt heute als Geburtsstunde bürgerschaftlichen Engagements in China.

Erste reiche Privatunternehmer gründen Stiftungen, die seit vergangenem Jahr steuerlich gefördert werden. Eine der größten Umweltstiftungen ist die 2004 von 80 Unternehmern ins Leben gerufene Initiative „Society, Ecology, Enterpreneurs“ (SEE). Sie widmet sich dem Kampf gegen die Sandstürme im Norden des Landes, die Farmland, Oasen und Straßen begraben. Jedes Mitglied spendete damals umgerechnet rund 12.000 Euro. Inzwischen ist SEE formal als Stiftung registriert und stark gewachsen.

"Spenden aus der breiten Bevölkerung für die Umwelt sind dagegen die absolute Ausnahme", sagt Jiang Yan. Die zierliche 49-Jährige ist Vize-Direktorin der chinesischen Abteilung des Jane Goodall Institute (JGI) der bekannten britischen Primatenforscherin, das, wie so viele NGOs, vor allem von Spenden internationaler Firmen lebt. Mehr als 600 Gruppen des Umweltbildungsprogramms Roots & Shoots der Organisation gibt es heute an chinesischen Schulen. Diese planen eigene Umweltprojekte, dazu organisiert JGI im Sommer Veranstaltungen. „Immer mehr Lehrer unterstützen uns“, sagt Jiang Yan. „Die Kinder verstehen die Umweltthemen immer besser.“

Jiang selbst kam erst spät zum Umweltschutz. Als Verwaltungsangestellte eines Unternehmens stellte sie irgendwann fest, wieviele Probleme es in der Gesellschaft gibt – und wollte fortan lieber für eine NGO arbeiten. Seit gut sechs Jahren ist sie beim JGI und kümmert sich in dem engen, überfüllten Raum der Gruppe in einer Pekinger Schule um Finanzen und PR. „Ich bin sehr glücklich, eben weil wir im Kleinen Dinge bewegen können.“ Sie selbst reduzierte ihren Konsum von Einwegprodukten und Kleidung und trennt ihren Müll. Und sie hat stets eigene Mehrweg-Essstäbchen dabei, um in Restaurants keine Einwegstäbchen verwenden zu müssen – damit setzen viele Umweltaktivisten in China ein bewusstes Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft.

Müll ist seit Jahren eines der Kernthemen bei Roots & Shoots. „Wir erklären den Kindern, warum es wichtig ist, Plastikverpackungen zu vermeiden, mehrfach zu benutzen und zu recyceln“, erzählt Jiang Yan. Projektleiter zeigen den Kindern, wie man Müll trennt. Und jeder muss zu den Events seine eigene Mehrweg-Wasserflasche mitbringen. „Die Kinder finden das toll“, erzählt Jiang Yan. „Sie gehen nach Hause und erzählen ihren Eltern davon. Manche setzen Dinge wie Mülltrennung dann zuhause um, andere nicht. Wichtig ist vor allem, dass die Kinder damit aufwachsen und so von Anfang an Umweltbewusstsein entwickeln.“

So wie Sun Shan. Sie war in den 1980er Jahren eines von knapp 200 Kindern, die vom Pekinger Kinderpalast - einer Eventhalle für Kinderveranstaltungen - zu einem Umweltkurs eingeladen wurden. Das habe sie geprägt, erzählt sie. „Ganz viele von uns sind heute Forscher oder Umweltaktivisten. Viele Städter hingegen kennen die wilde Natur überhaupt nicht. Gerade diese Bevölkerungsgruppe will Shanshui motivieren, mit Raftingtouren auf ungezähmten Flüssen oder Reisen aufs tibetische Plateau und in die Panda-Schutzgebiete Sichuans. Für nicht wenige ist dies die erste Begegnung mit der Natur. Sun wählt die Teilnehmer sorgfältig aus – in der Hoffnung, dass sie sich künftig selbst für die Natur engagieren.

Shanshui und Roots & Shoots wollen die Bürger einbinden. Ma Jun dagegen hat die Verursacher des Drecks im Visier. Er ist Direktor des vom Staat unabhängigen Institute for Public and Environmental Affairs (IPE) und ein Veteran im Kampf für sauberes Wasser. Sein Buch „Chinas Wasserkrise“ rüttelte vor knapp zehn Jahren viele Chinesen auf. 2006 gründete er das IPE, dessen zehn Mitarbeiter heute Landkarten mit Verursachern von Wasser-, und Luftverschmutzung ins Internet stellen. Im ersten Jahr listete das IPE etwa 2.500 Wasserverschmutzer auf, heute sind es 118.000. Der 45-Jährige sieht das vor allem als Zeichen gestiegener Transparenz. Und Transparenz sei entscheidend dafür, um Verursacher zum Aufräumen heranzuziehen, ist Ma überzeugt.

Tatsächlich öffnet sich der Staat langsam. Zuletzt beim Thema "Krebsdörfer", in denen die Krebsrate weit über dem nationalen Durchschnitt liegt. Meist stehen in diesen Dörfern kleinere Chemie- oder Papierfabriken. Anfang des Jahres räumte Peking erstmals die Existenz solcher Orte ein. Das sei ein großer Fortschritt, sagt Ma Jun. Als Nächstes müsse die Regierung jetzt die Beweislast umkehren, fordert er: Bisher müssen die Dörfler beweisen können, dass der Krebs durch verseuchtes Wasser ausgelöst wurde – was ohne Zugang zu wissenschaftlich fundierten Daten kaum möglich ist.

Auf Mas schwarzer Umweltsünderliste stehen mehr als 820 Firmen – darunter viele Chemiewerke. Hunderte davon seien dabei, ihre Fabriken mit Kläranlagen oder anderer Umwelttechnik nachzurüsten, sagt Ma. Geholfen habe nicht zuletzt der Druck großer ausländischer Marken, die in ihren Lieferketten aufräumen wollten. „Siemens etwa ist sehr aktiv. Sie gleichen regelmäßig die Liste ihrer 10.000 chinesischen Lieferanten mit unserer Verschmutzer-Liste ab und fordern Umweltsünder zur Besserung auf.“ Auch Adidas und Puma nutzen Mas Karte – und erste chinesische Großkonzerne: Lenovo etwa, das als Besitzer der Marke IBM den globalen Markt im Blick hat, oder der Sportartikelhersteller Li Ning.

Seit 2007 führte Ma Jun 46 NGOs zur „Green Choice Alliance“ zusammen, um gemeinsam Druck auf Firmen auszuüben. Das Bündnis entwickelte ein Instrument, mit dem Investoren Unternehmen auf ihre Umwelt-Performance abklopfen können, bevor sie Aktien kaufen.

Ma arbeitet somit ähnlich wie NGOs im Westen: mit Druck. Shanshui und Roots & Shoots setzen eher auf Kooperation, auch mit Regierungsinstitutionen. Sie alle aber wissen, dass sie eine starke Umweltpolitik der Regierung brauchen, damit sich wirklich etwas ändert. Peking muss dafür die Macht der Interessengruppen brechen – allen voran die der staatlichen Öl- und Stromkonzerne, die sich bislang strengeren Standards widersetzen.

Nach dem Horrorsmog vom Januar erließ die Regierung immerhin sofort strengere Benzinstandards sowie neue Regeln für sechs kohleintensive Industrien. Fraglich aber bleibt, ob sich die Firmen daran halten. Verstöße in den Kommunen gegen das Umweltrecht gehören in China zur Tagesordnung.

Ma Jun wünscht sich daher nichts Geringeres als einen Umweltgerichtshof, an dem gegen Verstöße geklagt werden kann. Und noch einen Wunsch hat er: Ein Online-Register, das in Echtzeit darstellt, wie viele Emissionen gerade in China ausgestoßen werden. „Wir haben ferner vorgeschlagen, alle Firmen zu verpflichten, ihre jährlichen Emissionen öffentlich bekannt zu geben.“ Ma Jun ist kein Träumer. Ihm ist klar, dass seine Vorschläge sehr schwer durchzusetzen sind. „Ich habe trotzdem Hoffnung. Denn das Bewusstsein der Menschen steigt. Und sie wollen gehört werden.“