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Kalifornische Versuchung

Eine Herkules-Aufgabe kommt auf die Museen zu: die Digitalisierung ihrer Bestände für das Publikum und die Wissenschaft. Die Zeit ist reif. Heute tummeln sich bereits mehr Besucher auf den Internetseiten der Sammlungen als vor Ort.


„Eine Erziehungseinrichtung, eine computerisierte Datenbank der Kulturgeschichte, ein Träger für Aktionen“. So stellte sich der Happening-Künstler Allan Kaprow bereits 1967 das Museum der Zukunft vor. Doch inzwischen sind fast 50 Jahre vergangen und Sammlungen, die ihre Bestände umfänglich digital zugänglich gemacht haben, sind noch immer selten.

 

Forderungen, wie sie etwa Martin Roth, Direktor des Victoria & Albert Museum in London, pointiert formuliert, klingen deshalb auch ein halbes Jahrhundert nach Kaprow noch radikal: „Ich möchte dahin kommen, dass unsere Sammlung mit 2,5 Millionen Objekten binnen Minuten für die Öffentlichkeit vollkommen zugänglich ist“, sagte er kürzlich auf einer Tagung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Berlin. „Ich möchte das Digitale und das Reale, die Objekte, miteinander verheiraten.“

 

Die fünfte Kernaufgabe

 

Hermann Parzinger, Generaldirektor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, schreibt den Museen die Digitalisierung als eine fünfte Kernaufgabe ins Stammbuch – neben den traditionellen vier Kernaufgaben Sammeln, Bewahren, Erschließen (Forschen) und Vermitteln.

 

„Wir wollen das Museum anders denken“, sagt auch Inka Drögemüller, Kuratorin am Frankfurter Städel Museum, das zurzeit an einer Ausstellung im Internet arbeitet. Die Zahlen sprechen für sich: Das Städel registrierte zuletzt 1,5 Millionen „User“ auf seiner Website, mehr als doppelt so viel wie im Hause selbst.

 

Das Hamburger Beispiel

 

Für diejenigen Museen, die eine Datenbank auch als Basisquelle für die Wissenschaftler begreifen, ist die Digitalisierung von Beständen ein Kraftakt, nicht nur finanziell. Drei Jahre brauchte die Kunsthalle Hamburg, um in einem ersten Schritt 15.000 Zeichnungen und Graphiken aus ihrem Kupferstichkabinett und ihrer Bibliothek schrankenlos und ohne vorherige Anmeldung zugänglich zu machen.

 

Über 130.000 Werke zählt der Bestand des Kupferstichkabinetts. Es ist eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen Europas. Altmeisterzeichnungen der italienischen, niederländischen und deutschen Schule sind hier zuhause, eine Sammlung italienischer Druckgraphik von europäischem Rang, eine der drei besten Kollektionen mit spanischen Zeichnungen außerhalb Spaniens und Papierarbeiten der deutschen Romantik, um nur die wichtigsten Schwerpunkte zu benennen.

 

Nicht Masse, sondern Klasse

 

„Es geht nicht darum, Masse einzustellen“, stellt David Klemm klar, der das Digitalisierungsprojekt der Kunsthalle wissenschaftlich leitet. Die Latte liegt hoch: eine hochwertige Bildauflösung, die Darstellung in Farbe und eine wissenschaftliche Kommentierung, die höchsten internationalen Ansprüchen genügen soll, hat sich die Kunsthalle zum Ziel gesetzt.

 

Deshalb hat die Kunsthalle zunächst einmal das digitalisiert, was am besten erforscht war: 4.000 Altmeisterzeichnungen, für deren Sichtung Forscher bislang je 250 Euro teure Bestandskataloge konsultieren mussten; dann in einem zweiten Schritt die 11.000 italienischen Druckgraphiken. Für Scans von 7.000 in Bücher eingebundenen Blättern musste eigens ein Gerät entwickelt und angekauft werden, die sogenannte „Buchwiege“.

 

Internetauftritt mit Spaßfaktor

 

Viele andere Museen nehmen sich portionsweise kleinere, gut aufgearbeitete Bestände je nach Kassenlage und Anlass vor. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf etwa ihren exzeptionellen Paul Klee-Bestand, dem sie ihre Gründung verdankt. 2012 gingen die 101 Werke nach dreijährigen Provenienzrecherchen und einer instruktiven Ausstellung zur Geschichte „hinter“ diesen Bildern online. Heute stehen 227 Werke aus dem Gesamtbestand der Landeskollektion auf der Website, etwas über 10 Prozent.

 

Auch das Städel Museum in Frankfurt hat sich an die Arbeit gemacht. Seit Sommer 2015 digitalisiert es mit Mitteln der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (DFG) und in Kooperation mit dem Bildarchiv Foto Marburg 22.000 Zeichnungen (). Bereits existent ist seit März 2015 die „Städel Digitale Sammlung“ (), die aktuell rund 900 Werke zählt, aber weiterwächst. Mit ihrer attraktiven Benutzeroberfläche, die sich bewusst an ein breites Publikum wendet, aber auch für die Wissenschaft nutzbar ist, kann wohl kein zweites Museum in Deutschland mithalten.

 

Mit oder ohne das Google Art Project

 

Auf der Onlineplattform Google Art Project ist das Städel so wie die meisten großen deutschen Häuser und jüngst auch die Kunsthalle Karlsruhe mit einer Auswahl von Meisterwerken vertreten. Doch die nordrhein-westfälische Kunstsammlung in Düsseldorf sucht man vergeblich. „Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, einen Vertrag mit einem kommerziellen Unternehmen abzuschließen, um die eigenen Werke in das weltweite Google-Netz einzuspeisen, erklärt Museumsdirektorin Marion Ackermann auf Anfrage. Die Kunstsammlung wolle die Möglichkeiten des Digitalen nutzen, um neue Sichtweisen zu ermöglichen; sie könne mit hoch auflösenden Scans Details sichtbar machen, die man mit dem bloßen Auge nicht erkennen könne und komplexe Strukturen von Wissen und Geschichte miteinander verknüpfen sowie Kontexte zeigen. „Diesen Weg wollen wir aber in unseren eigenen Kanälen gehen“, unterstreicht Ackermann.

 

Wer zahlt für die Rechte?

 

Museen mit modernen und zeitgenössischen Beständen wie die nordrhein-westfälische Kunstsammlung oder das Museum Ludwig in Köln stehen jedoch vor einem weiteren Hindernis. Sie haben vor allem Werke von Künstlern im Bestand, bei denen die Schutzfrist nach deutschem Recht, also 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, noch nicht abgelaufen ist. Für jeden von ihnen müssten die Häuser selber die Rechte für die Werke einholen, die auf der Google-Plattform in Erscheinung treten sollen.

 

Die VG Bild-Kunst, die für viele Künstler die Rechte vertritt, würde gerne mit Google ins Gespräch kommen. „Wir finden, dass Google die Rechte erwerben sollte“, sagt die Justiziarin Anke Schierholz. „Wenn es will, dass die Museen mitmachen; denn die haben kein Geld dafür.“

Zuerst erschienen am 8./9./10. April 2016 auf den Printseiten des Handelsblatts