Nasrullah liebt schnelle Sportwagen. Jetzt in einem Porsche lässig durch die Stadt fahren, das wär's. Stattdessen sitzt Nasrullah gebeugt über einen weißen Holztisch und drückt die Tasten seines Taschenrechners, um den elektrischen Widerstand einer Reihenschaltung zu berechnen. Neben ihm sitzt Jakob und mahnt: "Eigentlich geht das auch ohne." "Heute ist Sonntag", entgegnet Nasrullah - und beide lachen.
Seit November 2014 treffen sich die zwei einmal pro Woche zur Nachhilfe, abends oder am Wochenende, in Jakobs WG in der Münchner Ludwigsvorstadt. Ihr Weg nach München könnte nicht unterschiedlicher gewesen sein: Jakob ist in Dresden geboren und hat in Karlsruhe und München Maschinenbau studiert. Als Kind hat der 28-Jährige mit den kurzen, blonden Haaren in den USA und in Frankreich gewohnt, die Eltern sind beide Akademiker. Der Vater hat einen Doktortitel, Jakob hat die Promotion in Aussicht.
Nasrullah kommt aus einer anderen Welt. Der junge Mann mit dem pechschwarzen Haar und der Zahnspange stammt aus einem Bergdorf in Afghanistan. Seine Eltern haben nicht einmal einen Schulabschluss. Er floh vor Krieg und Verfolgung durch die Taliban. 2011 ist er über den Iran, die Türkei und Griechenland bis nach München geflüchtet - als 15-Jähriger, allein.
Rund jeder siebte Schüler in Deutschland hat einmal pro Woche Nachhilfeunterricht. Im Durchschnitt bezahlen Eltern dafür 87 Euro pro Monat, zeigt eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Viel Geld, für Kinder aus einkommensschwachen Verhältnissen oder Flüchtlingsfamilien oft zu viel. Doch gerade sie haben es oft nötig, entscheiden doch immer noch häufig Herkunft und Status der Eltern über den schulischen Erfolg des Kindes. Laut Deutschem Gewerkschaftsbund erhielten 2015 nur rund 40 Prozent der Schüler mit einem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz.
Die Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen, ist das erklärte Ziel des Vereins "Studenten bilden Schüler" (SBS). Er bietet Kindern wie Nasrullah seit 2012 Nachhilfe im Einzelunterricht an - kostenlos und fächerübergreifend. Auch Jakob und Nasrullah haben sich über den Verein kennengelernt. Vier Jahre nach seiner Gründung ist SBS in 20 Städten vertreten, etwa 1.000 Studierende engagieren sich ehrenamtlich. Dabei kooperiert der Verein eng mit Kinder-und Waisenhäusern und weiteren sozialen Partnern. Finanziert wird er durch Spenden. Münchens Alt-OB und Schirmherr Christian Ude hat einige Mitglieder sogar schon einmal zu sich nach Hause eingeladen.
"Konzentration" will Jakob gerade sagen, doch bevor er seine Forderung beenden kann, schreibt sein Schüler mit dem schwarzen Kugelschreiber eine "80" auf seinen Collegeblock. Richtig, nächste Aufgabe: Einheiten umrechnen. Nasrullah ächzt: "Da komm ich immer mit den Buchstaben durcheinander. Der Lehrer hat das nur drei Minuten erklärt." Kein Problem, Jakob hat noch fast 90 Minuten Zeit dafür. Nach jedem Rechenschritt stellt der Doktorand Fragen, die Wanduhr über Nasrullahs Kopf hört man nur selten ticken. Beide sind hochkonzentriert, keiner von beiden trinkt etwas.
Jakob ist niemand, der sich mit seinem sozialen Engagement brüsten würde. Früher wollte er Lehrer werden, jetzt mache ihm eben die Nachhilfe Spaß. Dann sagt er aber schließlich: "Ich möchte auch, dass die Schere zwischen Einkommensschwachen oder Flüchtlingen einerseits und Akademikern nicht noch weiter auseinandergeht."
Bei Nasrullah hat er das geschafft. Der Afghane besitzt inzwischen einen Hauptschulabschluss, einen qualifizierten Mittelschulabschluss und die mittlere Reife. Seine Noten im Englischunterricht an der Götzinger Realschule haben sie damals mit Referaten aufgebessert, erinnert sich Jakob, natürlich über Nasrullahs Lieblingsthema: Ferrari. Aktuell absolviert der 20-Jährige in Nürnberg eine Ausbildung zum Mechatroniker. Dort lernt er, Aufzüge zu bauen. Über seinen Mentor sagt Nasrullah: "Es macht mir immer Spaß, und er hilft mir, das zu erreichen, was ich will."
Auch die Bundesregierung versucht, Nachhilfeunterricht für Schüler wie Nasrullah erschwinglicher zu machen. 2010 verabschiedete sie das Bildungs- und Teilhabepaket. Im siebten Jahr nach seiner Einführung bemängeln Wohlfahrtsverbände allerdings, es sei viel zu kompliziert. Dutzende Anträge müssten ausgefüllt und unterschrieben, Belege eingeholt werden. Für SBS-Bundesvorstand Jochen Taiber liegt hier der entscheidende Vorteil seines Vereins: "Wir haben keine Aufnahmekriterien. Man muss keine Formulare ausfüllen. Es braucht nur einen Schüler und einen Nachhilfelehrer, dann geht's los." Um die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten, müssen die Nachhilfelehrer aber nachweisen, dass sie keine Straftaten im Jugendbereich begangen haben und die Schüler nicht ideologisch, religiös und politisch beeinflussen.
Los geht's für Nasrullah und Jakob gleich zum monatlichen Vereinsausflug, heute in den Trampolinpark "Air Hop" im Münchner Norden. Außerhalb der Nachhilfe etwas gemeinsam zu unternehmen, findet Jakob wichtig. Er hat auch schon Besuche ins Theater oder in die Bavaria Filmstudios organisiert. Einmal hat Nasrullah Jakob und dessen Freundin zu sich nach Hause eingeladen und für sie gekocht: Fleisch, Spinat und ganz viel Reis, das, was er eben immer kocht. Seinen Gästen hat es sehr gut geschmeckt.
Die allerletzte Aufgabe, verspricht Jakob. Nasrullah seufzt. Wenig später ist es geschafft, der Nachhilfeschüler legt den Stift weg und blickt nach oben auf das Bild an der Wand. Es zeigt zwei graue Porsche 911: Der eine hat die Nase vorn, doch der andere hat fast aufgeholt.
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