Als «Revolution der Jugend» wurden die Umbrüche in den arabischen Staaten bisweilen bezeichnet. Waren es doch vor allem junge, beschäftigungslose, aber mit modernen Medien vertraute und global vernetzte Tunesier, Jemeniten oder Ägypter, die ihr Verlangen nach Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Würde öffentlich artikulierten und neue soziale Bewegungen schufen. Dies alles fand jedoch nicht im luftleeren Raum statt: Die Aufstände hatten Wurzeln, die weiter zurückreichen als bis zu der Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Mohammed Bouazizi im Dezember 2010. Es gab Anzeichen des Wandels, es gab Seismografen, und es gab Wegbereiter.
Weit gespannter BogenIn ihrem Buch «Literatur der Rebellion» baut die Kulturjournalistin Susanne Schanda – mit Blick auf Ägypten – auf dieser Beobachtung auf: Sie fragt nach der Rolle von Schriftstellern vor und während der Revolution. Inwiefern haben die Literaten mit ihren Werken das innenpolitische Klima, die Gesellschaft verändert? Inwiefern hat sich in dieser Zeit aber auch die Literatur verändert?
Schanda, die das Land seit 15 Jahren kennt und unter anderem für die NZZ regelmässig von dort berichtet, hat dafür über Jahre hinweg Gespräche mit Autoren verschiedener Generationen geführt. Sie spannt einen weiten Bogen: von den «Müttern und Vätern der Rebellion» über feministische Literaturschaffende bis hin zu den jungen Literatur-Bloggern – und vom klassischen Roman über den Thriller bis zur Graphic Novel. Das Ergebnis ist ein vielstimmiger, vielschichtiger Versuch, die Revolution aus einer gesellschaftlichen Perspektive heraus zu begreifen, und zugleich eine lesenswerte Tour d'Horizon durch die (progressive) Literaturlandschaft Ägyptens – kulturell immer noch eines der Schwergewichte der arabischen Welt.
Als Ausgangspunkt und roter Faden durch die acht Kapitel dient der Befund, dass Ägypten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in eine «neue Ära des Lesens» eingetreten sei: Was früher ein Zeitvertreib für die Eliten gewesen sei, habe in den letzten Jahren unter Mubarak breitere Bevölkerungsschichten erreicht. Schriftsteller – von staatlicher Zensur zumeist unbehelligt – widmeten sich verstärkt Missständen und Tabuthemen, während neue Medien und Vertriebswege die Zahl der potenziellen Leser multiplizierten. Ein wichtiger Motor dieser Entwicklung und zugleich ihr erster Höhepunkt war der 2002 erschienene Schlüsselroman «Der Jakubijân-Bau» von Alaa al-Aswani, der gleich mehrere heisse Eisen anpackte. Seinen ungeheuren Erfolg verdanke das Buch dem Umstand, dass es «in einer einfachen, direkten Sprache von den Abgründen der korrumpierten ägyptischen Gesellschaft erzählt und mit feinem Gespür die weit verbreitete Frustration widerspiegelt», schreibt Schanda und bilanziert: «So etwas hatten die Ägypterinnen und Ägypter kaum je gelesen.»
Im Gefolge von al-Aswanis Bestseller rund um die Bewohner eines Hauses in der Kairoer Innenstadt gelang es weiteren Autoren, mit lebensnahen Stoffen Aufmerksamkeit und Auflagen zu erreichen, von denen frühere ägyptische Schriftsteller nur träumen konnten. Schanda setzt dies mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes seit etwa 2000 in Zusammenhang: Der Unbeweglichkeit des Regimes stand eine erwachende Zivilgesellschaft gegenüber, die sich in politischen und kulturellen Initiativen organisierte. Und immer öfter spielten die neuen Medien dabei eine Rolle. Dies blieb wiederum nicht ohne Auswirkungen auf die Art des Schreibens. So räsoniert der Journalist und Autor Chalid al-Chamissi über den Textnachrichtendienst Twitter mit seiner 140-Zeichen-Beschränkung: «Diese Idee, dass man sich sehr präzis und konkret ausdrückt, widerspricht der ägyptischen Idee des Schreibens diametral.» Er glaubt daher, Ägypten befinde sich mitten in einer kulturellen Revolution.
Das Buch bietet zahlreiche solcher erhellender Lektüremomente. Ganz ohne Schwächen ist es zugleich nicht: Die knapp 20 Autorenporträts ähneln sich bisweilen ein wenig – das literarische Werk steht dann jeweils für Kritik an Autoritäten, und was die Revolution angeht, schwanken die Schriftsteller und Schriftstellerinnen zwischen Euphorie und Ernüchterung. Nur in einigen Kapiteln werden Konflikte greifbar, etwa bei der Orientalismus-Debatte oder den provokanten Ansichten des Nachwuchsautors Youssef Rakha.
Gelegenheit für EntdeckungenDies liegt freilich zum Teil in der Natur der Sache und wird im Übrigen mehr als wettgemacht durch Schandas kundige Einführungen in die jeweiligen Hauptwerke. Unter diesen befinden sich einige, die noch nicht ins Deutsche übersetzt sind – auch Verleger sollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Susanne Schandas Buch zu lesen. Sie könnten darin noch die eine oder andere Perle entdecken.
Susanne Schanda: Literatur der Rebellion. Ägyptens Schriftsteller erzählen vom Umbruch. Rotpunktverlag, Zürich 2013. 251 S. Fr. 38.–.