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Ohlala: Wie Pia Poppenreiter ihre App für bezahlte Dates retten will

Urban Zintel

Mit ihrer App für bezahlte Dates will Pia Poppenreiter Geld verdienen. Sie will aber auch die Prostitution von ihrem Stigma befreien. Es ist ein Kampf mit vielen Gegnern.

„Haben Sie Ihr Produkt je selbst ausprobiert?“ Die Frage kommt ganz zum Schluss. Eine halbe Stunde lang hatte Pia Poppenreiter auf der Bühne der Otto Beisheim School of Management in Vallendar gesprochen, war vor dem Pult auf und ab geschritten wie ein alter Professor und hatte erklärt, mit welchen Problemen sie als Gründerin zu kämpfen hat. Poppenreiters App Ohlala will Menschen verbinden, die miteinander auf „bezahlte Dates“ gehen. Männer können Anfragen stellen, inklusive der Summe, die sie ausgeben wollen, Frauen können darauf antworten. Man könnte auch sagen, es ist eine App für Prostitution, selbst wenn Poppenreiter dieses Wort bewusst vermeidet. Was der Frager wissen will, ist also: Hat Poppenreiter selbst schon mal Geld im Tausch gegen sexuelle Dienstleistungen genommen?

Es ist Freitag, der 7. Oktober, der erste Tag der jährlichen Gründerkonferenz der Privatuniversität. Vor Poppenreiter sitzt im abgedunkelten Hörsaal ein zu 90 Prozent männliches Publikum, zukünftige Gründer und Konzernmanager in blauen Hemden und Kaschmirpullovern. Poppenreiter ist die einzige Frau, die heute auf dieser Bühne spricht. Eine von ohne­hin wenigen Gründerinnen in der Tech-Branche. Und jetzt diese Frage. 

Eben noch gehörte Poppenreiter diese Bühne, sie hat Begriffe wie Ethik und Moral diskutiert, als sei sie nicht erst Ende 20, sondern gehörte hier seit Jahrzehnten zum Lehrpersonal. Jetzt reckt sie defensiv das Kinn und sagt mit eingefrorenem Lächeln: „Diese Frage beantworte ich wie alle persönlichen Fragen: Es gibt Dinge, die sind privat, und diese zählt dazu.“

Poppenreiter hört sie nicht zum ersten Mal. Seit sie vor vier Jahren mit ihrem ers­ten Startup Peppr in den Sex-Tech-Markt einstieg, ist sie „die mit der Prostitutions-App“. Jeder in der deutschen Start­up-Szene kennt den Namen Pia Poppenreiter. Durch jede Konferenz, auf der sie auftaucht, geht ein Raunen. Eine blonde junge Frau mit Katzenaugen, BWL-Studium und einer Station bei einer Investmentbank – warum will so eine ausgerechnet die Sexbranche revolutionieren? Ist die womöglich selbst „so eine“? 


Wenn Frauen gründen, erwarten viele einen persönlichen Bezug. Mütter, die Baby-Apps entwickeln, Frauen, die was Digitales machen mit Mode oder Möbeln – das passt. Poppenreiter hasst Shoppen, Klamotten lässt sie sich von ihrer Mutter schicken. Poppenreiter will den Markt für sexuelle Dienstleistungen umkrempeln, ihn effizienter machen für diejenigen, die damit Geld verdienen. Sie hat ein Problem erkannt und eine mögliche Lösung dafür entwickelt, so wie jeder andere gute Gründer auch. Dass aber eine Frau etwas zu ihrer Mission macht, das sie nicht direkt betrifft, scheint für viele den Rahmen des Vorstellbaren zu sprengen.

Der Moment, in dem Poppenreiter und ihr Problem sich trafen, ihr Urknall als Unternehmerin, ereignete sich im Winter 2013. Sie erzählt davon bis heute auf Podien und in Interviews, es ist der Gründungsmythos von Ohlala, der Ausgangspunkt für Poppenreiters „Story“, die in ihren Erzählungen immer leicht nach Achterbahnfahrt klingt: Poppenreiter ist Mitte zwanzig und steckt in einer Krise, ihren Master in Wirtschaftsethik hat sie fertig, nun hat sie keine Ahnung, was als Nächstes kommen soll. Mit ein paar Freundinnen betrinkt sie sich in einer Berliner Kneipe mit Wodka Soda. Als sie anschließend nach Hause spaziert, sieht sie an einer Straßenecke Sexarbeiterinnen in Lackstiefeln auf Kundschaft warten. Warum stehen die hier herum, fragt sich Poppenreiter: Das ist doch total ineffizient?

Noch in derselben Nacht beginnt sie zu recherchieren. Sie stellt fest: Der Markt für Prostitution ist riesig, nach Schätzungen der Gewerkschaft Ver.di werden allein in Deutschland jedes Jahr 14,5 Milliarden Euro mit sexuellen Dienstleistungen umgesetzt. Die Arbeit ist legal und für manche Frauen zumindest zeitweise die beste Option, um sich den Lebensunterhalt zu sichern oder etwas dazuzuverdienen. Wäre da nicht die Verachtung.

Die wenigsten sind geoutet und arbeiten sozialversichert. Viele fürchten um ihren Ruf oder den ihrer Kinder. Es muss doch irgendwie möglich sein, denkt Poppenreiter, den Frauen ein anderes Arbeiten zu ermöglichen. Selbstbestimmter, sicherer und anonym. Seitdem kämpft Poppenreiter mit Technologie gegen das Stigma von Prostitution. Und will als Unternehmerin natürlich auch Geld verdienen. Das muss sich nicht ausschließen.


Seit einiger Zeit kämpft Poppenreiter allerdings noch an einer ganz anderen Front. Was an diesem Tag in Vallendar niemand im Saal weiß: Während sie auf der Bühne erklärt, warum ihr nichts auf der Welt wichtiger erscheint, als „bezahltes Dating“ zu revolutionieren, fürchtet sie, ihr Startup zu verlieren.


Dabei schien Anfang 2016 noch alles wunderbar: Poppenreiter und ihr Mitgründer und CTO Torsten Stüber konnten eine Finanzierungsrunde für die Spreefang GmbH verkünden, so heißt die Firma hinter Ohlala. 1,7 Millionen Euro hätten sie für ihre Expansions­pläne eingesammelt. Zu den neuen Investoren gehört unter anderem Benjamin Bak, Gründer und Geschäftsführer des größten deutschen Dating-Portals Lovoo. Er hat die neue Runde angeführt, knapp 13 Prozent der Anteile übernommen, und damit entsprechend den größten Teil der Finanzierung zugeschossen. Poppen­reiter stellt ein Team ein. Sie will die App jetzt schnell in sechs weitere deutsche Städte bringen – und ab Frühjahr 2016 auch in New York testen, dem ersten Standort im Ausland. Sie ist eine ungeduldige Gründerin. 

Anfang Juni wird Bak verhaftet. Seine Firma soll Hunderte gefälschte Frauen-Profile auf Lovoo angelegt und so männliche Nutzer dazu gebracht haben, kostenpflichtige Abos abzuschließen. Es geht um Betrug und mehr als eine Million Euro Schaden. Bak kommt gegen Kaution bald wieder frei. Ende September stellt die Staatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungen ein, gegen eine hohe Geldbuße.

Über das, was währenddessen bei Ohlala passiert, widersprechen sich die Angaben. Aus dem Umfeld des Startups heißt es: Bak soll einen Teil seiner Inves­tition nicht eingezahlt haben. Er selbst sagt dazu auf Nachfrage, es bestünden ihm gegenüber keine offenen Forderungen. Poppenreiter will sich gar nicht äußern. Fest steht: Im Juli schaltet Ohlala plötzlich auf Notbetrieb. Poppenreiter kündigt das Büro auf einem Start­up-Campus in Berlin Mitte. Entlässt fast alle Mitarbeiter.

Als sie Anfang Oktober vor den Studierenden in Vallendar spricht, besteht Ohlala faktisch fast nur noch aus ihr, Stüber, zwei Laptops  und einem ziemlich leeren Konto. Ein Startup kurz vor dem Kollaps. 

Am Abend vor Poppenreiters Auftritt hatten sich die Gesellschafter der Spreefang GmbH noch einmal zu einer Telefonkonferenz getroffen. Eine Krisensitzung, Poppenreiters Tribunal. Ehemalige Mitarbeiter berichten: Nach der Sache bei Lovoo sei die Stimmung schlecht gewesen. Bak soll die Absicht geäußert haben, die Firma alleine weiterführen zu wollen. Auch dies bestreitet Bak auf Nachfrage. Es wird geschrien an diesem Abend in Berlin. Die Ohlala-App läuft währenddessen weiter. Tausende Männer und Frauen benutzen sie täglich, um bezahlte Dates zu vereinbaren.

Wer Pia Poppenreiters Namen in der internationalen Startup-Szene noch nicht kannte, kennt ihn spätestens seit dem 9. Juni 2016. An diesem Tag findet die Digitalkonferenz Noah in Berlin statt, eine Veranstaltung von Axel Springer. Abends steht eine Gala auf dem Programm, Häppchen, Drinks und Party für die Venture Capitalists und Gründer. Und auch Ohlala hat eingeladen: Nutzerinnen und Freundinnen, die sich erst auf der Terrasse des Start­ups von Torsten Stüber Drinks servieren lassen und anschließend gemeinsam hinüberziehen wollen zur Noah-Party. Eine vorbereitete PR-Aktion. Die Plakate und Visitenkarten sind schon gedruckt: „Ohlala: Real Women. Real Dates“. In der Einladung, die Ohlala per E-Mail an seine Nutzerinnen verschickt hat, steht: „Mingle with the men who crave the finer things in life: CEOs, Executives, Investors.“

Poppenreiter selbst geht nicht mit. Sie hat Wichtigeres zu tun. Am Morgen hat sie erfahren, dass ihr Investor Ben Bak verhaftet worden ist. Als die anderen zur Noah-Party aufbrechen, geht sie nach Hause, telefoniert bis in die Nacht mit den anderen Gesellschaftern. Am nächsten Morgen auf der Konferenz klatschen Leute sie mit High Fives ab. Kurz darauf sieht sie den PR-Chef der Noah auf sich zu rauschen: „Hast du keinen Google-Alert auf deinen Namen?“, brüllt er. Unter dem Hashtag #Escortgate kann sie es dann Tweet für Tweet nachlesen. Ihr Telefon beginnt zu vibrieren, Journalisten wollen sie sprechen.

Die PR-Aktion für Ohlala war ein voller Erfolg oder ein totales Desaster, wie man es nimmt. Von „überproportional vielen jungen Frauen in High Heels und kurzen Röcken“ berichten Partygäste, die mit den anwesenden Männern flirteten. „Nutten halt“, wird jemand zitiert. Einige finden die Aktion lus­tig, aber vor allem Frauen aus der Startup-Szene sind wütend. „Es war eindeutig, dass diese Frauen weder Gründerinnen noch Investoren, sondern aus Unterhaltungsgründen eingeladen waren“, beschwert sich eine Gründerin in der Presse. 

Für Frauen in der Startup-Branche, ohnehin in der Unterzahl, muss es wie Hohn gewirkt haben. Eine Leuchtreklame: Achtung, dies ist eine Männer-Konferenz. Ihr seid hier Fremdkörper! Was vier Tage und viele internationale Head­lines später hängen blieb: Pia Poppenreiter, die Escort-App-Gründerin, hat eine Konferenz mit einer ohnehin unterirdischen Frauen­quote – unter den 105 Speakern waren 10 Frauen – für ihre geschmacklose PR-Aktion missbraucht. Sie postet ein Statement, in dem sie sich bei Veranstaltern und Gästen dafür entschuldigt, sie „in eine unangenehme Situation gebracht zu haben“. 

Was sie nicht sagt, bis heute nicht, was man nur von ehemaligen Mitarbeitern erfährt: Ohlalas Nutzerinnen und Freundinnen haben sich nicht eingeschlichen, sie standen auf der Gästeliste. Im Anschluss explodieren die Nutzerzahlen  der App. Heute würden sich befreundete Gründerinnen bei Poppenreiter bedanken, sagt sie. Nach dem Skandal seien Frauen als Speakerinnen so gefragt wie noch nie. 

22. November: Es ist ein grauer Dienstagmorgen, in einem dieser Cafés in Berlin, in das Menschen zum Arbeiten gehen. Ein paar Straßen entfernt liegt der Campus, auf dem bis vor Kurzem Poppenreiters Büro war. Ohlala steckt schon seit fünf Monaten fest, eingeklemmt zwischen den Interessen der Gründer und Investoren. „Das Irre ist ja“, stöhnt Poppenreiter, „dass das Produkt funktioniert. Wir wachsen und haben erstaunlich viele Nutzungen, dabei minimalen operativen Aufwand.“ 8000 Nutzerinnen hat die App inzwischen in Deutschland, sagt Poppenreiter. Das Verhältnis Frauen zu Männern sei 1:6, eine fantastische Quote für eine Dating-Plattform. Falls Ohlala scheitert – und das scheint in diesem Moment gut möglich – dann nicht, weil die Idee schlecht gewesen sei, glaubt sie. Sondern weil ihr das Geld ausging.

Sie trägt Sneakers, Jeans und ein Sweatshirt, die Haare hat sie zum Zopf zurückgebunden. So seriös wie bei ihren Auftritten kleidet sie sich selten. Vor allem sieht Poppenreiter nicht aus wie die Cyber-Madame, die man sich nach den Presseberichten ausmalt. Sie ist eher Tomboy als Ohlala. „Eigentlich“, sagt sie, „habe ich bei Ohlala alles so gemacht, wie andere Gründer es auch tun.“ Sie hat zunächst die Konkurrenz analysiert: existierende Websites wie kaufmich.de. Dort werden Frauen ausgestellt wie unterschiedlich belegte Pizzen auf einer Speisekarte – für eine Branche, in der viele anonym arbeiten müssen, konnte das nicht ideal sein. Poppenreiter hat dann mit Nutzerinnen gesprochen, die dort ihre Dienste anboten, die bestätigten ihren Eindruck. Also hat sie eine bessere Lösung entwickelt.

Anfang 2014 gründet sie zunächst Peppr, eine App für Escorts. Ein Jahr später ist mit Peppr wieder Schluss, weil sie sich mit ihrem Co-Founder nicht auf eine gemeinsame Linie einigen kann. Kurz darauf, im Februar 2015, startet sie zusammen mit Torsten Stüber Ohlala. Diesmal baut sie eine entscheidende Neuerung ein, zu der sie durch Gespräche mit ihren Nutzerinnen gelangt ist: Die Zielgruppe von Ohlala sind jetzt nicht mehr nur Escorts. Es sind einfach alle Frauen, die mal Lust haben, auf ein bezahltes Date zu gehen.

Außerdem kehrt Ohlala das bisherige Prinzip um: Nicht die Frauen bieten sich an, die Männer müssen aus der Deckung. Sie posten Anfragen. Die Frauen suchen sich aus, wer ihnen zusagt und haben alles in der Hand. Wenn Uber praktischer ist als Taxifahren und Airbnb praktischer als Hotelzimmerbuchen, dann ist Ohlala praktischer als andere Escort-Seiten. Für Männer, aber vor allem für Frauen.

Es gibt nur einen Punkt, sagt Poppenreiter, der Ohlala von anderen Startups unterscheide: das Stigma. Die meisten Menschen meinen, Sex als bezahlter Service sei so ziemlich das Letzte und Poppenreiter eine Art Cyber-Zuhälterin. „Ich habe mir zum Gründen die schwerste Branche ausgesucht, die ich hätte finden können“, sagt sie. Trotzdem wollte sie unbedingt in diesen Markt. Poppenreiter kann nur arbeiten, wenn sie auch den Sinn sieht. „Was ist wirklich wichtig?“, fragt sie. „Ist es wichtig, Schuhe zu verkaufen im Internet? Ist das welt­bewegend? Oder ist es wichtig, dass du diesen abgefuckten, verkrusteten Markt aufbrichst, in dem Technologie für wirkliche Innovation sorgen kann?“ Ohlala ist für Poppenreiter mehr als eine gute Geschäftsidee. Es ist die Möglichkeit, Dinge zu verändern; etwas zu tun, das zählt.

Im Moment kann sie allerdings nicht viel tun: Seit Juli legt Poppenreiter ihren Mitgesellschaftern alle paar Wochen neue Lösungsvorschläge vor, um die Situation aufzulösen. Keiner wird angenommen. Außer Bak sitzen in diesen Runden, die meist per Telefonkonferenz stattfinden, auch Ben Kubota, Mitgründer von Moviepilot, und Max Finger, der in den 90er-Jahren die Ebay-Kopie Alando mit aufmachte. Sie sind gleich zu Anfang mit kleinen Summen bei Ohlala eingestiegen, das Konzept hat sie überzeugt. Aus dieser Runde hört man allerdings auch, viele der Probleme von Ohlala gingen nicht auf das Konto von Ben Bak, sondern seien hausgemacht. Es sei zum Beispiel immer noch nicht geklärt, wie Ohlala eines Tages Geld verdienen soll – noch ist die Nutzung der App kostenlos. Auch der Launch in den USA sei überhastet gewesen. Ohlala ist so etwas wie Poppenreiters Baby. Sie sieht nicht die Makel, nur, was es schon alles schafft und kann.

Will man verstehen, wie eine junge Frau mit exzellenter Ausbildung dazu kommt, ins Rotlichtmilieu einzusteigen, muss man zurückblicken nach Schauersberg, ein Dorf bei Linz. Hier ist Poppenreiter aufgewachsen. Die Mutter ist Künstlerin, der Vater führt ein Unternehmen für Brandschutzbeschichtungen. Mit 14 wechselt sie vom Mädchengymnasium auf die Handelsakademie, will aber nur lernen, was sie sinnvoll findet. Biologie findet sie nicht sinnvoll. Sie geht nicht mehr zur Schule, muss die vorletzte Klasse wiederholen. Ihre Eltern beknien sie: „Mach die Schule fertig.“ „Das war das einzige Gespräch, in dem meine Eltern mich um eine Sache gebeten haben, die ich anders gesehen habe“, sagt sie.
Sie besteht ihre Matura dann mit Auszeichnung und studiert in Krems BWL, weil sie nicht weiß, was sie sonst machen soll. Den Job bei einer Investmentbank in Frankfurt schmeißt sie nach einem halben Jahr hin, zieht nach Wien, kellnert, treibt durchs Leben. „Ich war in meiner ersten fetten Lebenskrise angekommen. Ich war 25 Jahre alt, hatte einen erstklassigen Uniabschluss mit Einserschnitt und keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen sollte.“ Kurz darauf ereignet sich die Szene mit den Sexarbeiterinnen auf der Straße. Und Poppenreiter gründet ihr erstes Startup. Ohne Kontakte in die Branche, ohne Geld. Nicht mal ein Smartphone hat sie, nur ein altes Nokia-Handy ohne Touchscreen. Aber sie hat jetzt ein Ziel.

Menschen, die Poppenreiter persönlich kennen, können sich auf ein Attribut einigen: zielstrebig. Sie hat keinerlei Berührungsängste gegenüber Leuten aus dem Gewerbe, was ihr vor allem die politischen Aktivistinnen hoch anrechnen. Andere Gründer aus der Berliner Start­up-Szene, die sie mal getroffen haben, mögen sie. Sie kann mitreißen. „Ich glaube, das liegt daran, dass ich niemanden überzeugen will. Ich verkaufe nichts. Ich erzähle einfach die Geschichte und frage: ,Findest du das auch sinnvoll?‘“ Sie drückt nicht, sie zieht. Und das klappt.

Ohlala mag keinen einzigen bezahlten Mitarbeiter mehr haben. Aber Poppenreiter hat einen ganzen Kreis von Menschen um sich versammelt, die alle an Ohlala mitarbeiten – von ihren WG-Mitbewohnern bis zu ihrem eigenen Vater. Der ist ihr engster Berater, jede strategische Entscheidung bespricht sie mit ihm. „Wir denken sehr ähnlich“, sagt Poppenreiter. „Egal welche wahnsinnige Idee ich ihm vorgeschlagen habe, er hat nie zu mir gesagt: ,Das geht nicht.‘ Er hat gesagt: ,Pippimaus, wenn du’s willst, kannst du es schaffen.‘“ Daher wohl rührt Poppenreiters Selbstsicherheit, jedes Problem lösen zu können, auch wenn sie noch nicht weiß, wie. 

Anscheinend musste da erst jemand kommen wie sie, um einen vermeintlich schmutzigen Markt aufzubrechen. Eine Frau, der es gefällt, alles infrage zu stellen. Die es aushält, verachtet zu werden, solange sie mit sich im Reinen ist. Eine Gründerin, die eine App für bezahltes Dating entwickeln kann, ohne dass es sofort nach einer modernen Form der Zuhälterei aussieht. Der man tatsächlich abnimmt, dass sie die Interessen der Frauen ebenso im Blick hat wie ihre Geschäftsprognosen.

Sexuelle Leistungen gegen Geld anzubieten, ist in Deutschland mit Einschränkungen seit Anfang 2002 legal. Die Sittenwidrigkeit ist damit rechtlich abgeschafft. Nicht abgeschafft sind die zu Wahrheiten verfestigten Überzeugungen, die die meisten Menschen im Kopf tragen. Sex gegen Geld, das gilt bestenfalls als schmierig. Wie eine fettige Glasscheibe liegen diese Ansichten über allem, was mit kommerziellem Sex zu tun hat. Durch sie betrachtet, ist eine Nutzerin von Ohlala einfach ein Escort. Aus Nutzer wird Freier. Aus Dating wird Anschaffen. Aus Gründerin wird Zuhälterin. Aus Marketing wird Frechheit. Aus einem Nachnamen – Poppenreiter?! – ein flacher Witz. Aus Gebühren wird Ausbeutung. Aus effizient wird eiskalt.

Am liebsten wäre es Poppenreiter, sie könnte die Scheibe streifenfrei putzen. Oder noch besser: zerschlagen. Das Stigma abschaffen. Sie ist zu gleichen Teilen Unternehmerin wie Idealistin. Weil das aber als Aufgabe für einen Menschen allein zu groß ist, selbst für einen mit Poppenreiters Selbstbewusstsein, hat sie sich für die Zwischenzeit einen semantischen Workaround überlegt. Wörter wie Sexarbeit, Prostitution oder Escort kommen bei Ohlala nicht vor. Stattdessen gehen die Nutzerinnen auf „bezahlte Dates“. Date, das klingt nach Romantik, nicht nach Rotlicht. Was auf einem Ohlala-Date passiere, sei Sache der Beteiligten. „Wir sind keine Prostitutions-App“ – das Ohlala-Mantra. 

Das funktioniert vor allem als Marketingbotschaft. Denn auf dem Sexmarkt ist das Problem nie die Nachfrage, die ist immer da. Es geht darum, einen Service attraktiv für Frauen zu machen, die Anbieterinnen. Viele dieser Frauen, das hat Poppenreiter während ihrer Recherchen erkannt, haben kein Interesse daran, sich selbst mit einem Label zu versehen. Sie würden sich nie Escort oder Prostituierte nennen. Auf Ohlala müssen sie das auch nicht. Hier sind sie einfach Frauen, die sich im Tausch für ihre Zeit entschädigen lassen. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist das eigentlich Revolutionäre an Ohlala, die Disruption der seit Jahrtausenden geltenden Doppelmoral. Sie findet auf der Wortebene statt.

In der Welt von Ohlala gibt es „so eine“ Frau nicht mehr. Weil jede Frau „so eine“ Frau sein könnte. Aus zwei Sorten von Frauen, solchen und solchen, wird eine Sorte. Und was sich in der Sprache etabliert hat, so die Hoffnung, sickert auch in die Köpfe. Es ist unklar, ob Ohlala diese Entwicklung vorantreibt. Vielleicht ist es eher so, dass Poppenreiter als Erste den Zeitgeist erkannt hat. Indem sie auf Label wie Escort verzichtet, reagiert sie auf ihre Nutzerinnen und deren neue Haltung zu ihrer Sexualität: Sex gegen Bezahlung zu haben, kann auch ein Gelegenheitsjob sein, den man mal macht, vorübergehend und selbstorganisiert. Sex­arbeit auszuprobieren, ohne das Risiko, gleich als Prostituierte geoutet zu werden, sei heute einfacher denn je, schreibt die US-Journalistin Melissa Gira Grant in ihrem Buch Playing The Whore.
Die deutsche Politik arbeitet währenddessen in die entgegengesetzte Richtung. Im September 2016 hat die Regierung ein neues Gesetz verabschiedet: Ab Juli müssen sich Menschen, die Sexarbeit nachgehen, behördlich anmelden. Spätestens ab Ende des Jahres greift das Gesetz für alle, auch diejenigen, die vorher schon mit Sex Geld verdienten. Sie bekommen dann ein Beratungsgespräch und einen Ausweis mit Foto, den sie während der Arbeit bei sich tragen müssen. 

Die Familienministerin sagt, nur wenn der Staat Sexarbeiterinnen sehe, könne er sie vor Ausbeutung schützen. Diese wurden allerdings nicht gefragt, ob und wie sie überhaupt geschützt werden wollen. Organisationen wie Amnesty International werfen die Frage auf, ob das Gesetz nicht doch eher auf Kontrolle als Schutz von Sexarbeiterinnen abziele. Was auf Ohlala fließend ineinander übergeht, der Graubereich, soll wieder sauber auseinander sortiert werden: Das ist eine Prostituierte, das ist keine Prostituierte. Aus einer Sorte Frau werden wieder zwei.

Für Ohlala heißt das: Nutzerinnen ohne Ausweis machen sich spätes­tens ab Dezember strafbar. Das Kernversprechen der App – mehr Anonymität, weniger Schubladen – wäre damit futsch. Die wenigsten würden sich wohl anmelden wollen; und wer unangemeldet erwischt wird, kann mit Bußgeld bis zu 1000 Euro bestraft werden. Kommen Ohlala die Nutzerinnen abhanden, wäre die App nichts mehr wert. Poppenreiter glaubt nicht, dass es so weit kommt. Denn wer soll das alles kontrollieren? Sie ist Optimis­tin, manchmal vielleicht zu sehr.

So ein Ende wäre für sie mehr als eine Bruchlandung ihres Start­ups, es wäre eine politische Niederlage. Sie würde sich selbst nie so nennen, aber sie ist auch Aktivistin. Seit Jahren geht sie auf den Kongress des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleis­tungen BesD, eine Art Gipfeltreffen deutscher Sexarbeiterinnen. Mit den Gründerinnen des Verbandes ist sie gut befreundet. In ihrer Zeit bei Peppr sprach sie auch vor dem Bundestag, der damals schon eine Reform des Prostitutionsgesetzes beriet. Auch damals waren keine Sexarbeiterinnen eingeladen, dafür Poppenreiter. „Ich habe mich vorher von den anderen coachen lassen“, lacht sie. „Ich muss eure Interessen vertreten und weiß doch gar nicht, was ich sagen soll.“

„Politisch ist sie voll auf unserer Seite“, sagt Johanna Weber, eine der Gründerinnen des BesD. „Das rechne ich ihr hoch an. Sie macht sich Gedanken, wie die Arbeitsbedingungen verbessert werden können und wie wir Einfluss nehmen können, damit die Gesetze besser zu unserer Branche passen.“ Weber ist eine ruhige Frau Ende 40. Sie arbeitet als Domina mit eigenem Studio in Berlin. Pia Poppenreiter und Torsten Stüber haben bei der Renovierung geholfen.

Den Treffpunkt hat Zara vorgeschlagen, ein Kaffeehaus im Berliner Westen. Zara ist nicht ihr richtiger Name. Sie verwendet ihn für Dates, manchmal nennt sie sich auch Lina oder Sarah. Sie hat eine WhatsApp-Liste auf ihrem Smartphone mit den Kontakten ihrer Dates. Ihr jeweiliges Alter Ego steht als Buchstabenkürzel davor, außerdem vermerkt sie, worauf die Männer standen, ob es gut war. Smiley oder Ausrufezeichen heißt: war cool, mit dem gerne wieder. Zara ist 24, fünf Jahre jünger als Pia Poppenreiter. Wie Poppenreiter hat sie lange, glatte Haare, die über ihre Schulter fallen. Zum grauen Stretchkleid trägt sie Winterstiefel und dezentes Make-up. Sie lacht offen und tief aus dem Bauch, berührt einen beim Sprechen am Arm und der Schulter. Eine kluge Gesprächspartnerin. Man kann sich vorstellen, dass Männer gerne in ihrer Gesellschaft sind. 

Seit dem Sommer trifft sie über Ohlala ein bis zwei Mal die Woche Männer, je nachdem, wie viel Zeit sie hat neben dem Studium und ihrer Selbstständigkeit. Das Geld sei nett, aber nicht so wichtig. „Ich mag einfach, dass meine Zeit wertgeschätzt wird.“ Zara ist Single, vor Ohlala war sie auch auf anderen Dating-Plattformen unterwegs, unbezahlten. Eine frustrierende Erfahrung. Oft wollten ihre Dates sie nicht mal zum Essen einladen, bevor es nach Hause ging. Manche machten sich nicht die Mühe, abzusagen. Das ist jetzt anders.

Stört sie nicht, dass die Männer auf Ohlala nur Sex suchen? „Aber das wollen doch alle!“, ruft sie. Sie habe nichts gegen kurzfristigen Spaß, sagt sie und grinst. Nur sollte er schon mit einem Minimum an Respekt verbunden sein. „Auf Ohlala ist der Rahmen wenigstens klar. Und dadurch, dass ich eine Wertschätzung durch das Geld bekomme, habe ich nicht diesen Stress: Mag der mich wirklich?“

An Ohlala gefällt ihr neben der Anonymität die Effizienz. Auf anderen Escort-Seiten wollten Männer oft „nur chatten, um heiß gemacht zu werden“. Zum eigentlichen Treffen – und der Transaktion – komme es nie. Zeitverschwendung für die Frauen. Ohlala setzt deshalb ein Zeitlimit. Anfragen werden für denselben Tag gepostet, Nutzerinnen haben maximal eine Stunde, um darauf zu reagieren. Auf dem Screen läuft ein Countdown: Noch 21 Minuten, um sich bei Tim55 zu melden! Zara findet das praktisch.

Irgendwann sollen Kundinnen wie Zara das ganze Date über die App abwickeln, nicht nur die Kontaktaufnahme. Dazu müsste Ohlala allerdings erst einen Payment-Anbieter finden, der bereit ist, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die No-Sex-Regel des App-Stores umgehen Poppenreiter und Stüber, indem Ohlala als Webseite auf dem Handy läuft. Einen Finanzdienstleister brauchen sie trotzdem. Visa und Mastercard wollen nichts mit sogenannter Erwachsenenunterhaltung zu tun haben, Paypal ebenso wenig. Sie alle sind schon in den USA unter Druck geraten. Wie die Bezahlung gelöst wird, das ist nur eins von vielen Problemen, für die Poppenreiter noch keine Lösung hat.

Samstag, 3. Dezember: Morgen ist der zweite Advent. Ohlala ist immer noch im Notbetrieb. Poppenreiter verbringt ihre Zeit fast nur noch damit, Streit zu schlichten – und zu warten. Sie sieht, dass ihre Idee funktioniert. Nur an ihr arbeiten kann sie nicht. Sie sitzt in einem Stadtteilzentrum in der dreckigen Ecke von Kreuzberg, eine Baracke mit Großküche und einem Saal voller Plastiktische. Bekannte organisieren ein Abendessen für Obdachlose, ihre Schicht beginnt um 20 Uhr. Es riecht nach Toast, die Scheiben sind beschlagen vom Dampf.

Sie wirkt erschöpft. Man merkt ihr an, wie sehr ihr die Situation zusetzt. Immer wieder nimmt sie die Hornbrille ab, reibt sich mit Daumen und Zeigefinger an der Nasenwurzel. Sie sagt: „Es ist nicht zu fassen. In der Zeit hätte ich noch mal ein neues Produkt bauen können. Man kann Lösungen erarbeiten, aber dafür brauchst du konstruktive, rationale Investoren. Und wenn lang verhandelt wird, wird es meist emotional. Alle beschuldigen alle. Das wird dann zur Ego-Sache.“ 

So sieht es also aus, wenn ein Startup scheitert. Es ist die Phase, bei der man normalerweise nicht zuschauen kann, über die eigentlich kein Gründer redet, schon gar nicht, während er drinsteckt. Am Ende liest man nur: insolvent. Oder das Startup bekommt die Kurve und keiner bekommt mit, dass zwischendurch das Aus drohte. So ein Scheitern kommt aber meist nicht plötzlich, es ähnelt eher dem Verlauf einer schweren Krankheit. Es ist ein Siechen, ein quälend langsamer Prozess, bei dem ein Hoffnungsschimmer nach dem anderen verglimmt. Die verfügbaren Therapien gehen aus. Am Ende steht schlimmstenfalls der Tod. Wie gnädig sich der anfühlt, ist eine Frage der Perspektive.

In der Innenansicht sieht das so aus: „Zuerst bekommst du die totale Wut, dass du deine Firma nicht voranbringen kannst. Dann kommt eine Phase der Erschöpfung. Dann beginnst du dich wieder aufzubauen. In der Phase sind wir gerade. Wir sagen: ,Fuck, wir haben nichts mehr, aber wir wollen es schaffen!‘“ Darin, wie die Lösungen aussehen, mit denen Ohlala noch zu retten wäre, bleibt Poppenreiter vage, ebenso wie bei der Schilderung der Probleme. Sie will die Situation nicht verschlimmern. Vielleicht errichtet sie auch eine Nebelwand, die verdecken soll, dass sie selbst nicht weiß, wie es weitergehen soll. Den 24. Dezember hat sie sich als Deadline gesetzt. Wenn bis dahin keine Lösung gefunden ist, soll Schluss sein. „Wir verhandeln jetzt schon so lange“, sagt sie. „Meine Stärke ist, Dinge aufzubauen. Das will ich wieder tun.“

Ein letztes Treffen im März. Weihnachten ist gekommen und gegangen. Entschieden wurde: nichts. Seit Monaten verzichten Poppenreiter und Stüber auf ihr Gehalt, die Reserven sollen die Server am Laufen halten, all ihre Lösungsvorschläge haben die Investoren verworfen. „Das letzte Jahr war die Hölle“, sagt Poppenreiter. Und: „Die Startup-Branche ist das dreckigste Geschäft, das ich kenne.“

Gehe alles schief, fange sie eben von vorne an, mit einem neuen Namen, neuen Investoren. „Das ist weniger anstrengend als Nichtstun. Wir haben alles Menschenmögliche versucht, um die Firma zu retten. Vielleicht müssen manche Dinge erst kaputtgehen, damit sie groß werden können.“ Das ist so ein Poppenreiter-Satz, selbstbewusst bis an die Grenze zum Größenwahn. Sollte sie doch noch zu Deutschlands erfolgreichster Gründerin werden, kann man ihn auf Tassen drucken. Aber egal, wie diese Geschichte ausgeht, eines steht fest: Poppenreiter hat jetzt ihr Problem gefunden und sie wird so schnell nicht wieder davon ablassen.

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