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Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom : Wenn es dir schlecht geht, ist das gut

Das Jahr 1997 ist gerade angebrochen, und sie sind auf der Autobahn, als Tim* in seinem Kindersitz erschlafft. Er stammelt verwaschen, verdreht die Augen, Arme und Beine baumeln, als gehörten sie nicht zu seinem Körper. Vorne sitzen die Großeltern des Dreijährigen. Sie kennen diese Anfälle bereits. Sein halbes Leben leidet Tim schon daran. Und jedes Mal wird er hilflos wie ein Säugling. Ausgerechnet Tim, dieser muntere kleine Kerl, der die Welt so gern auf eigene Faust erkundet. Zu Hause angekommen, kann er kaum stehen. Er fragt die Oma, was mit ihm los sei. Aber die weiß es auch nicht.

Das Gute und das Böse liegen manchmal sehr nah beisammen. Ein Wechselspiel, das Martin Krupinski schon lange fasziniert. Der 59-Jährige leitet die Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg. Und wann immer in Deutschland eine Mutter bezichtigt wird, ihr Kind vorsätzlich zu schädigen oder krank zu machen, um es dann vor aller Augen aufopfernd zu pflegen, klingelt Krupinskis Telefon. Er ist der führende Experte für ein befremdendes Phänomen: das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.

An einem sonnigen Nachmittag im Mai 2021 lehnt Krupinski in seinem Bürostuhl, auf dem Schreibtisch stapeln sich Akten, Dutzende angezeigter Vergewaltigungen und Missbrauchsfälle. Hinter ihm an der Wand ein Gemälde: Bäume, Hügel, Sonnenuntergang. Klingelt sein Telefon, muss Krupinski mitunter erklären, dass er eigentlich der Falsche ist: "Es ist nicht die Aufgabe von Psychiatern, eine Kindesmisshandlung in Form eines Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms festzustellen. Das ist die Aufgabe von Kinderärzten." Aber wenn die Tat dann festgestellt wurde, ist die Täterin tatsächlich ein Fall für ihn.

Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist eine Sonderform der Kindesmisshandlung, die auch unter dem englischen Begriff Münchhausen-by-proxy-Syndrom firmiert. Krupinski ist einer der wenigen Wissenschaftler in Deutschland, die intensiv zum Thema geforscht haben. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wurde erstmals 1977 vom englischen Kinderarzt Roy Meadow beschrieben. Er leitete den Begriff vom Münchhausen-Syndrom ab, das ein gezieltes Vortäuschen von Krankheiten durch den angeblichen Patienten selbst beschreibt. Solche Patienten schildern meist dramatische Krankheitsgeschichten, manche verletzen sich sogar selber, um "echte" Beschwerden zu präsentieren. Einer vergleichbaren Dynamik folgt auch das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Der Unterschied: Die Inszenierung betrifft zwei Menschen, die in einer engen Beziehung zueinander stehen. In der ganz überwiegenden Mehrheit sind diese Täter weiblich: oft Mütter, die ihre Kinder vergiften oder anersticken. "Die Selbstmanipulation am eigenen Körper wird durch die Fremdmanipulation am Kind ersetzt", sagt Krupinski. Münchhausen-Stellvertreter-Mütter täuschen die Ärzte, sie fordern vehement die medizinische Untersuchung ihres Kindes. Das Krankenhauspersonal ist oft emotional stark berührt, kümmert sich intensiv um Mutter und Kind und wird so ahnungslos Teil des schrecklichen Schauspiels.

Der Münchhausen-Begriff ist vom berühmten Lügenbaron gleichen Namens entliehen. Man unterscheidet drei Vorgehensweisen: Die Mutter täuscht Symptome beim Kind vor, berichtet etwa dem Kinderarzt von Krampfanfällen, die es nie gab. Oder sie manipuliert Diagnosen, mischt beispielsweise in die Urinprobe des Kindes eigenes Menstruationsblut. Im schlimmsten Fall stellt sie die Symptome selbst her: vergiftet ihr Kind, malträtiert dessen Haut oder verdeckt die Atemwege - bis zur Ohnmacht. Trifft eine dieser Vorgehensweisen zu - lässt sie ihr Kind also wiederholt medizinisch behandeln, verrät sie die wahre Ursache für Beschwerden nicht und verschwinden die Symptome bei Trennung von Mutter und Kind -, liegt wahrscheinlich ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vor.

Beim kleinen Tim begann es langsam: An einem trüben Tag im April 1995 rüttelt er - zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Jahre alt - an den Gitterstäben seines Bettchens. Seine Mutter Christine Schulze*, 28 Jahre alt und schwanger im sechsten Monat, hat ihn eine halbe Stunde zuvor schlafen gelegt. Er hat einen Infekt, ist unruhig. Als die Mutter ins Kinderzimmer tritt, liegt er bäuchlings auf der Matratze, kann nicht mehr stehen, nicht einmal sitzen. Das behauptet sie jedenfalls. Es ist der erste "Anfall" dieser Art - und viele werden folgen. Christine ruft nach ihrem Ehemann. Michael, 26, eilt herbei und sieht, wie dem Kind Speichel aus dem Mund rinnt. Ein Kinderarzt diagnostiziert einen Fieberkrampf, verschreibt ein Medikament. Und bald geht es dem Jungen besser.

Christine und Michael Schulze haben sich im Herbst 1992 kennengelernt. Damals lebte Christine noch mit ihrer dreijährigen Tochter Anna bei ihren Eltern in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Verliebten kommen aus sehr unterschiedlichen Welten. Sie: Mutter Alkoholikerin, Vater Choleriker, Ausbildung an einer Hauswirtschaftsschule, Putzjobs in Altenheimen, arbeitslos. Er: wohlhabendes Elternhaus, liebevolle , Abitur, Rettungssanitäter, Medizinstudent. (...)

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