"Jan", sagt die weibliche Stimme der Sprachausgabe nüchtern und zieht das 'a' dabei ganz lang. Gleich darauf folgt: "Mikrobe-Emoji, Maske auf, Gesicht mit Mundschutz-Emoji". Heiko Kunert ist auf Twitter unterwegs, seine Sprachausgabe liest ihm gerade den Nutzernamen von Satiriker Jan Böhmermann vor. "Händewaschen, Mikrobe-Emoji", macht die Sprachausgabe weiter. "Böhmermann, Gesicht mit geradem Mund und einer hochgezogenen Augenbraue-Emoji".
Die vielen bunten Emojis, die Böhmermanns Namen spicken, kann Kuhnert nicht sehen, er ist seit seinem siebten Lebensjahr blind. Eine Computerstimme liest ihm deshalb jeden Tweet vor, vom Hashtag bis zum Zwinkersmiley.
Seit 2013 ist Kuhnert Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg. Zuvor hatte der 44-Jährige als PR-Berater die Social-Media-Aktivitäten des Vereins betreut. Schon früh erlebte Kunert so, welche Hürden soziale Netzwerke für blinde und sehbehinderte Menschen bereithalten. Manche davon stammen aus der Technik, andere entstehen durch Postings von Nutzerinnen und Nutzern, die meist nicht darüber nachdenken, wie ihr Beitrag klingt, wenn er vorgelesen wird.
Heiko Kunert, Jahrgang 1976, ist Diplom-Politologe und lebt in Hamburg. Seit 2013 ist er Geschäftsführer des Blinden-und Sehbehindertenvereins Hamburg. Kunert ist vollblind und engagiert sich für eine barrierefreie Gesellschaft.
Auf seinem Blog schreibt Kunert über das Thema 'Barrierefreiheit im Netz', und gibt als Experte der Initiative "Barrierefrei Posten" Tipps, wie man blinden- und sehbehindertengerechte Social-Media-Beiträge verfasst. Im Interview spricht er darüber, wie jeder seine Postings etwas zugänglicher machen kann.
SPIEGEL: Herr Kunert, Sie nutzen soziale Medien beruflich und privat sehr häufig. Was schätzen Sie besonders an den Plattformen?
Heiko Kunert: Wir Menschen mit Behinderungen kommen über die sozialen Netzwerke mit anderen Menschen ins Gespräch und können so unsere Themen transportieren. Zum Teil können wir dort barrierefreier kommunizieren, als in der realen Welt da draußen. Manchmal ist es einfacher, digital ins Gespräch zu kommen.
SPIEGEL: Allerdings kritisieren Sie, dass soziale Medien nicht barrierefrei sind. Welche Hürden erleben Sie?
Kunert: Die häufigste Barriere für blinde und sehbehinderte Menschen ist unsere stark visuell geprägte Welt. Insbesondere in den sozialen Medien besteht sehr viel Content aus Videos und Bildern. Diese sind für mich oft erstmal nicht zugänglich, weil es zum Beispiel bei Bildern keine Bildbeschreibungen oder Alternativtexte gibt. Dadurch verstehe ich viele Postings nicht.
SPIEGEL: Was unterscheidet einen Alternativtext von der üblichen Bildunterschrift?
Kunert: Alternativtexte sind kurze Bildbeschreibungen für blinde und sehbehinderte Menschen. Auf Social-Media-Plattformen gibt es entsprechende Tools, mit denen Beiträge barrierefrei werden. Wenn sie als Nutzer beispielsweise bei Instagram ein Bild hochladen, können Sie dazu einen Alternativtext schreiben. Dazu klicken Sie auf "Erweiterte Einstellungen", dort gibt es das Feld "Alternativtext hinzufügen". Dort tragen Sie in kurzen Worten ein, was auf dem Bild zu sehen ist. Dieser Text wird mir dann von meiner synthetischen Sprachausgabe vorgelesen.
SPIEGEL: Gibt es diese Möglichkeit auch für Videos und Gifs?
Kunert: Technisch ist es da leider bisher nicht möglich, einen Alternativtext einzufügen. Eine Ausnahme: Bei Twitter gibt es diese Möglichkeit für Gifs. Aber bei Videos funktioniert das nicht. Wer gern möglichst barrierefrei posten möchte, kann natürlich trotzdem wichtige Dinge in einem Video benennen. Wird zum Beispiel ein Gebäude abgefilmt, könnte man kurz beschreiben, wie es aussieht. Das würde einem blinden oder sehbehinderten Menschen helfen einzuordnen, was im Video passiert. Alternativ dazu kann man den Begleittext zum Video nutzen.
SPIEGEL: Können auch sehende Menschen die Alternativtexte lesen?
Kunert: Nein, das ist für sie nicht erkennbar. Deswegen ist es hilfreich, wenn Sie beispielsweise den Hashtag #Bildbeschreibung dazu fügen. Auch die Beschreibung "!B" funktioniert.
SPIEGEL: Bleiben wir bei Hashtags. Was kann ich als Nutzerin tun, um barrierefreie Hashtags zu verwenden?
Kunert: Schreiben Sie am besten den Anfangsbuchstaben jedes neuen Wortes groß. Dann erkennt die Sprachausgabe, dass ein neues Wort beginnt und liest das dementsprechend vor. Das Gleiche gilt für Abkürzungen. Auch hier hilft es mir, wenn jeder Buchstabe großgeschrieben wird. Bei Kleinbuchstaben liest die Sprachausgabe den gesamten Hashtag als ein Wort vor. Dabei geht dann die Betonung flöten und für mich ist schwer zu erkennen, was der Hashtag bedeutet.
SPIEGEL: Erkennt Ihre Sprachausgabe auch Emojis?
Kunert: Ja, in der Regel haben auch Emojis einen vordefinierten Alternativtext, den meine Sprachausgabe ansagt. Sinngemäß höre ich dann sowas wie 'schnäuzendes Gesicht' oder 'lächelndes Gesicht mit Sonnenbrille'. Lästig wird es, wenn Emojis inflationär benutzt werden. Insbesondere bei Twitter verwenden viele Nutzerinnen und Nutzer bereits mehrere Emojis in ihren Profilnamen. So kann es passieren, dass meine Sprachausgabe mir vor dem eigentlichen Tweet bereits fünf oder sechs Emojis vorliest.
SPIEGEL: Wie ließe sich das verhindern?
Kunert: Ich würde empfehlen, Emojis nur dosiert zu verwenden. Für Sie ist ein Emoji ein Stilmittel - ein kleines Bild, das vielleicht sogar Komplexes ganz kurz auf den Punkt bringen kann. Bei mir hingegen wird der Text dadurch deutlich länger. Bei manchen Emojis kann man ja auch Geschlecht und Hautfarbe anpassen, das wird mir natürlich alles mit angesagt. Und wenn dann fünf oder sechs Emojis hintereinanderstehen, braucht die Sprachausgabe schon ein bisschen Zeit.
"Es ist nicht so viel anders als in der Welt da draußen"SPIEGEL: Nun haben wir viel über die Nutzerinnen und Nutzer gesprochen. Wo müssen die Plattformen noch nachlegen?
Kunert: Das Stichwort ist hier: barrierefreies Webdesign. Die Plattformanbieter müssten die gesamte Navigation so gestalten, dass ich Menüpunkte mit meiner Hilfstechnik ansteuern kann und weiß, welche einzelnen Bedienelemente es gibt. Instagram, Facebook und Twitter haben zwar in den letzten Jahren vieles optimiert, damit blinde und sehbehinderte Menschen die Feeds gut nutzen können. Allerdings sind für mich Stories zum Beispiel noch nicht zugänglich. Meine Sprachausgabe sagt mir bei Instagram nur den Nutzernamen an und sowas Kryptisches wie "Ig icon direct outline 24".
SPIEGEL: Sieht man sich beispielsweise auf Instagram um, wirkt es jedoch oft so, als wäre das Bewusstsein gegenüber Inklusion im Netz gestiegen. Sind die Hürden in den vergangenen Jahren zurückgegangen?
Kunert: Teils, teils. Einerseits gibt es zwar neue Werkzeuge wie die Alternativtexte, andererseits werden die sozialen Medien aber immer visueller. Weil die Beiträge auf Facebook oder Twitter früher noch viel textlastiger waren, waren Postings für mich quasi barrierefrei.
SPIEGEL: Aus Ihren Erzählungen klingt an, dass Sie online täglich mit Barrieren konfrontiert werden. Wie kommen Sie damit klar?
Kunert: Es ist nicht so viel anders als in der Welt da draußen. Hürden sind leider immer noch Alltag für Menschen mit Behinderungen. Ich fühle mich nicht von jedem Bild ohne Alternativtext emotional angegriffen. Aber die Summe macht's, dass ich mich ausgegrenzt fühle. Vor allem, wenn jegliche Bereitschaft fehlt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das fühlt sich scheiße an.
SPIEGEL: Was müsste sich bessern?
Kunert: Ich würde mich freuen, wenn mehr Nutzerinnen und Nutzer einfach mal versuchen würden, barrierefrei zu posten. Das klappt vielleicht nicht gleich perfekt, aber auch hier hilft Übung. Probieren Sie es aus! Sie könnten Millionen von Menschen helfen.
SPIEGEL: Und was antworten Sie jemandem, der ungern Rücksicht nehmen will?
Kunert: Ich sage da immer gern: Nicht nur die behinderten Menschen haben ein Recht auf Inklusion, sondern auch die nicht-behinderten Menschen. Sobald Sie Ihre Posts zugänglicher gestalten, treten Sie vielleicht mit ganz neuen Menschen in Kontakt. Plötzlich tauschen Sie sich mit blinden Menschen über Ihre Bildbeschreibung aus oder sprechen mit gehörlosen Menschen über Ihre Videos. Das ist ja auch eine Bereicherung für den nicht-behinderten Menschen.
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