Oetz - Der alte "Gasthof zum Stern" in Oetz ist völlig eingeschneit. Draußen schluckt der Neuschnee die Stimmen der Abendgesellschaft, die sich langsam auf den Weg nach Hause macht. Drinnen sitzen noch ein paar Stammgäste in der holzvertäfelten Stube beim Bier. Aus einem Nebenzimmer dringt das Gejohle einer Gruppe von Kartenspielern.
Am grünweißen Kachelofen, der den Raum fast auf Saunatemperaturen heizt, stimmt der Josef seine Harfe. Josef Grießer, ein akkurat gekleideter und zurückhaltender Mann um die 70 mit kurzen weißgrauen Haaren, führt den Traditionsgasthof, der seit Generationen in Familienhand ist. Eine Frau hat er nicht, dafür helfen ihm seine beiden ebenfalls ledigen Schwestern Maria und Margit im Lokal.
Frivoler Gesang mit Harfe
Früher war der Josef Kapellmeister, die Geschwister musizierten häufig für ihre Gäste. Der letzte Auftritt liegt allerdings schon Jahre zurück. Als jetzt ein paar Besucher nach Hausmusik fragen, sind die Schwestern sofort Feuer und Flamme: "Heute muss der Josef mal wieder spielen", sagt Maria resolut. Der Hausherr lächelt schüchtern und beginnt vorsichtig, an seiner Harfe zu zupfen. Sofort trällern die beiden alten Damen mit Unschuldsmiene frivole "Gstanzln". Als sie eine verballhornte Trinker-Version von "Oh Tannenbaum" zum Besten geben, blickt der Josef noch etwas angestrengt hinter dem Instrument hervor. Als aber ein patriotisches Tiroler Lied angestimmt wird, haut er plötzlich in die Saiten wie ein Teenager beim Luftgitarre-Spielen.
Der "Gasthof zum Stern" hat die ganze Geschichte des Ötztals vom bettelarmen Bauerntal zum modernen Ski-Tourismuszentrum miterlebt. Im Jahr 1611 ist in den Chroniken des Hauses der erste Wirtsbetrieb belegt. Davor hatte das Gebäude bereits als Gerichtssitz des Klosters Frauenchiemsee gedient, das von hier aus die Grundzinsabgaben für seine Besitzungen in der Region überwachte. Damals produzierten die Ötztaler vor allem Käselaibe, heute leben die meisten Talbewohner vom Fremdenverkehr. Allein im vergangenen Winter kamen fast 500.000 Urlauber ins Tal, das knapp 20.000 Einwohner zählt.
Einer, der diese Entwicklung kritisch verfolgt, ist der Ötztaler Mundartdichter und Volkskundler Hans Haid. Seit Jahren polemisiert der 71-Jährige mit deftigen Versen wütend gegen den Massentourismus.
Im "Gasthof zum Stern" erzählt er an diesem Abend über seine politischen Initiativen für mehr Umweltschutz und eine Rückbesinnung aufs alte Brauchtum. Der spontane Auftritt der drei Geschwister ist ganz nach seinem Geschmack, sie repräsentieren für ihn das authentische Ötztal.
"Porno Alpin" und Beleidigungsarchitektur
Das seiner Meinung nach "pervertierte Ötztal" beginnt etwa 30 Kilometer entfernt beim Wintervergnügungsparadies Sölden. Das ehemals kleine Bergdorf, in dem heute 3000 Menschen leben, registriert jedes Jahr zwei Millionen Übernachtungen, vor allem in den Wintermonaten.
Damit liegt es hinter Wien und Salzburg auf dem dritten Platz der österreichischen Top-Tourismusziele. Wer abends die Hauptstraße entlang schlendert, kann Haids Rede vom "alpinen Ibiza" verstehen: Klotzige Hotels versperren die Sicht auf die Berge, unzählige Bars und Discotheken werben mit blinkenden Leuchtreklamen für Après-Ski und Party nonstop. "Zwei Kilometer Beleidigungsarchitektur sind das", sagt Haid zornig. Seitdem er ein paar Wochen zuvor am Ortsausgang ein Striplokal entdeckt hat, nennt er Sölden nur noch "Porno Alpin".
Haid ist wohl der schärfste Kritiker der Entwicklung im Ötztal, aber er ist nicht der einzige. Einige Bauern haben sich in den vergangenen Jahren zu einer Öko-Kooperative zusammengeschlossen. Auch Angebote für einen sanften Tourismus gibt es: In Niederthai können Romantiker beim Pferdehof Kutschenfahrten durch die verschneite Berglandschaft buchen, bei der Sulztalalm oberhalb des Bergdorfes Gries sind abgelegene Winterwanderwege und Rodelstrecken zu finden.
Der "Gasthof Marlstein", der einsam auf 1800 Meter Höhe liegt, umwirbt Urlauber, die "bewusst kein Rambazamba und Holleidriö" suchen, und an den unplanierten Waldhängen des Ochsengartens stören weder "Beleidigungsarchitektur" noch Striplokale die Aussicht der Schneeschuhwanderer auf die verschneiten Gletscher und Täler.
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