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Muslime im Altenheim: Bitte keinen Waschlappen

Ritual: Burhan Akgül im muslimischen Gebetsraum des Pflegeheims. Der Türke ist einer von 26 Bewohnern mit islamischem Glauben. Foto: Wonge Bergmann

Auf den Teller kommt kein Schwein, der Imam ist Stammgast: Ein Altenheim in Frankfurt hat sich auf die Pflege muslimischer Senioren spezialisiert. Denn die Zahl älterer Migranten steigt rasant.


Burhan Akgül nimmt Fahrt auf. Er drückt den Joystick nach vorn, sein Rollstuhl beschleunigt. Vor der Rechtskurve bremst der 68 Jahre alte Mann ab. „Susanne, wie geht's?", ruft er einer Pflegerin zu, die gerade Handtücher stapelt. Bevor sie antworten kann, ist er schon längst um die Ecke gebogen.

Es ist Freitag, 14.30 Uhr. Akgül kommt gerade aus der Moschee und steuert Richtung Teezimmer. Als er in den mit orientalischen Gardinen behängten Raum fährt, sitzt dort schon der Imam. Er unterhält sich auf Türkisch mit einer Pflegerin. Mehrere Bewohner hören ihm zu, eine Frau mit Kopftuch saugt an einem Strohhalm.

Türkisch sprechendes Personal

Der Besuch des muslimischen Seelsorgers ist ein Ritual im Victor-Gollancz-Haus in Frankfurt-Sossenheim. Mehr als jeder fünfte der 123 Bewohner ist Muslim. Das Haus hat eine eigene Wohngruppe für Muslime eingerichtet. Außer dem christlichen gibt es auch einen muslimischen Gebetsraum, regelmäßige Imam-Besuche, Türkisch sprechendes Personal und Halal-Kost. Es gibt nur wenige ähnliche Angebote in Deutschland, etwa in Duisburg, Hamburg, Köln und Berlin.

Doch der Bedarf steigt, denn Deutschland altert - und damit seine Migranten. Die Generation der Gastarbeiter ist längst im Ruhestand, auch ihre Nachkommen ergrauen. Für 2030 sagt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge voraus, dass sich die Zahl der Migranten im Alter von mehr als 65 Jahren bundesweit verdoppelt hat. Das wären 2,8 Millionen Frauen und Männer.

Ältere Einwanderer sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe, besonders in Städten wie Frankfurt, wo Statistiken zufolge sehr bald jeder zweite Einwohner ausländische Wurzeln haben wird. Das Victor-Gollancz-Haus hat früh auf diese Entwicklung reagiert. Seit 2004 betreibt der stadtnahe Frankfurter Verband das Pflegeheim.

Kultur der Patienten wird berücksichtigt

Akgül fühlt sich wohl in dem Haus, dessen Wände geblümte Tapeten zieren. Die Mitarbeiter sprechen seine Sprache und zum Mittagessen gibt es Köfte oder gefüllte Weinblätter, seine absolute Lieblingsspeise. Das religiöse Programm ist dem Friseurmeister wichtig, obwohl seine Frömmigkeit ein bisschen nachgelassen hat, wie er es ausdrückt. Am liebsten braust er mit dem elektrischen Rollstuhl durch die Gegend, auf den er nach mehreren Schlaganfällen und einem Herzinfarkt angewiesen ist, oder scherzt mit Pflegerin Nazan Sezgin. Die nennt er auch schon mal „Abla". Das bedeutet „große Schwester".

„Die Biographie und Kultur der Bewohner sollen bei der Betreuung berücksichtigt werden", erklärt Hüseyin Kurt die Idee des Gollancz-Hauses. Das ist nicht immer einfach. Kulturell bedingte Schamgefühle müssten bedacht werden. So ließen sich Frauen oft nur von Frauen waschen. Viele Muslime dächten sogar, es sei eine Sünde, seine Eltern in ein Altenheim zu geben, sagt der Migrantenberater. Denn im Islam stehe das Wohl der Eltern an oberster Stelle. Deswegen sei auch die Kooperation mit dem Imam so wichtig. Der erklärt den Gläubigen, dass Altenpflege schon zu Mohammeds Zeiten üblich war.

Dass die wachsende Vielfalt der Gesellschaft eine große Herausforderung für das Pflegesystem ist, weiß auch Michael Schilder, Professor für Pflegewissenschaften an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Das Personal müsse einen Sensor für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patienten haben. Dabei komme es nicht darauf an, für jede Kultur oder Religion ein eigenes Betreuungskonzept zu entwickeln. „Das führt nur zur Stärkung von Stereotypen.“

Migranten verlören mitunter ihre Deutschkenntnisse

Stattdessen müsse Pflege individuell sein. Angesichts des ohnehin knappen Budgets und Fachpersonals sei das aber eine fast unmögliche Aufgabe, meint Schilder.

Dabei seien Einwanderer etwa durch jahrelange harte körperliche Arbeit in besonderer Weise pflegebedürftig. Einige verlören im Alter ihre deutschen Sprachkenntnisse, merkt der Wissenschaftler an. Einige Studien stellten bei Migranten im Alter auch eine Rückbesinnung auf ihr Heimatland fest. Wie viele ihren Lebensabend in einem deutschen Pflegeheim verbringen, wird statistisch nicht erfasst.

Waschen mit fließendem Wasser

In der Praxis gibt es manchen überraschenden kulturellen Unterschied. „Bei uns sind Waschlappen unbekannt“, sagt Pflegerin Sezgin, selbst Muslima. Ihre Patienten sagten oft: „Der verteilt den Dreck ja nur.“ Stattdessen wüsche man sich unter fließendem Wasser. Dieser Brauch stamme von der rituellen Reinigung vor dem Gebet. Außerdem bestehe öfter der Wunsch zu duschen. Solche Vorlieben müssten ernst genommen werden, findet Sezgin.

Ernst nimmt man im Victor-Gollancz-Haus auch das leibliche Wohl. Jeden Tag steht außer Gerichten wie Hackbraten und Eintopf ein muslimisches Menü auf dem Speisezettel. Wichtig dabei: Kein Schweinefleisch, kein Alkohol und nur Halal-Fleisch, so heißt die Schlachtung nach islamischem Ritus, bei der das Tier ausblutet.

Türkische Gerichte für die Bewohner

In der Küche gibt es deshalb vieles gleich zweimal: Pfannen, Kühlschränke und Besteck. Einmal habe es Putenschnitzel mit heller Soße gegeben, erzählt die Hauswirtschafterin Yildiz Karaca. „Das haben die Leute nicht angerührt.“ Sie dachten, es sei Schweinefleisch.

Sauerkraut oder Rinderbraten wäre in religiöser Hinsicht zwar kein Problem, trifft aber dann doch nicht den Geschmack der meisten türkischen Bewohner. Den kennt Karaca zum Glück gut. Mit Leidenschaft zählt sie etliche Köstlichkeiten auf, die sie zum Ramadanfest backt. Akgül nickt bestätigend. „Bester Tag im Jahr.“

Zum Zuckerfest sind auch die deutschen Bewohner eingeladen, so wie zu allen anderen muslimischen Feiern. Auch Weihnachten wird zusammen gefeiert. Doch wie klappt das Zusammenleben? Na ja, meint Frau Jahn, 85 Jahre alt, weiße Haare und rosa lackierte Fingernägel, die Verständigung sei schon schwierig. „Viele sprechen ja nur Türkisch.“ Aber sie hat sich arrangiert. „Bei uns ist eben multikulti.“ Und außerdem gebe es ja noch Hände und Füße. Burhan Akgül hatte keine Probleme, sich in dem Haus zu integrieren: Seine neue Freundin heißt Paula Müller.

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