Muhamadreza schaut auf das Foto auf seinem Handy. Es zeigt zwei junge Männer mit dunklen Haaren, die jeweils einen Arm um die Schulter des anderen geschlungen haben. Sie grinsen in die Kamera. Hinter ihnen leuchtet ein rötliches Licht. „Da waren wir im Bowling-Center", sagt Muhamadreza. Von der Fröhlichkeit dieses noch gar nicht so lange zurück liegenden Abends ist in seiner Stimme nichts mehr zu spüren. Wortlos wischt Muhamadreza mit dem Finger über das Display, zum nächsten Foto. Er und sein Freund im knöchelhohen Schnee. Er und sein Freund in der Schule. Er mit einem Haarnetz auf dem Kopf in einer Küche.
Die Fotos zeigen sein Leben in Europa im Schnelldurchlauf. Es war ein Leben, wie er es sich gewünscht hatte. In nur 20 Tagen hatte er sich vom Iran nach Finnland durchgeschlagen. Dort lernte er eifrig die schwierige Sprache und bekam nach drei Monaten einen Ausbildungsplatz an einer Berufsschule für Köche. Muhamadreza war glücklich. Dies war das Leben, von dem er immer geträumt hatte, für das er seine Heimat verlassen und sich mit 5000 Dollar bei Freunden verschuldet hatte. Jetzt ist der Traum ausgeträumt. Muhamadreza ist einige Tage nach dem Gespräch mit dem WESER-KURIER zurück nach Afghanistan gegangen. Freiwillig.
Damit ist er nicht allein. In Deutschland hat sich die Zahl derjenigen, die über das Rückkehrerprogramm der Bundesregierung das Land verlassen, fast verdreifacht. Bis Ende Mai 2016 waren es demnach bereits 25.511 Menschen, im Vorjahreszeitraum nur 9377. Besonders stark gestiegen ist die Zahl der Ausreisen in die Westbalkanländer Albanien, Kosovo, Montenegro und Mazedonien. Diese Personen nehmen die Rückkehrförderung in Anspruch, weil ihr Asylantrag abgewiesen wurde. Allerdings reisen auch immer mehr Iraker, Iraner und Afghanen zurück. Während im ersten Quartal 2015 nur 14 Menschen freiwillig nach Kabul zurückkehrten, waren es in diesem Jahr im gleichen Zeitraum 919 Personen.
Wieso gehen Menschen, die oft alles aufgegeben haben, wieder zurück? Gründe dafür gebe es viele, sagt Achim Ewerts, der bei der Bremer Arbeiterwohlfahrt (Awo) in der Rückkehrberatung arbeitet. „Einige haben Heimweh, andere haben kranke Verwandte zu Hause, um die sie sich kümmern wollen." Wiederum andere seien desillusioniert: von Europa, von den Turnhallen, von der Warterei. „Viele Flüchtlinge stellen fest, dass die Situation nicht so ist, wie sie sich vorgestellt haben", sagt Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl. Die Flüchtlinge stellen fest, dass sie sehr lange auf Asyl warten müssten. Dann können sie ihren Asylantrag zurückziehen, so Mesovic, und mit Hilfe der Rückkehrberatung in ihre Heimat zurückgehen.
Der Fingerabdruck ließ seinen Traum zerplatzenBei Muhamadreza war es ähnlich. Sein Traum von einer besseren Zukunft zerplatzte im Mai. Da saß er in einer finnischen Behörde. Er sollte ein Ausweispapier bekommen. Er gab ehrlich zu: Ja, bei seiner Durchreise in München habe er einen Fingerabdruck abgegeben. Heute sagt er, der Übersetzer in München habe ihn getäuscht. Dieser habe ihm gesagt, mit dem Fingerabdruck werde nur festgestellt, ob er Straftaten begangen habe. Freundlich habe ihm die Polizei noch auf der Karte den Weg gen Norden gezeigt. Doch nach der Dublin-Verordnung muss ein Migrant dort den Asylantrag stellen, wo er nachweislich zuerst europäischen Boden betrat. Mit dem Fingerabdruck war dokumentiert: Er muss nach Deutschland.
Seine Lehrerin in Finnland habe noch versucht, die Abschiebung zu verhindern. „Ich konnte mich in der Schule nicht mehr konzentrieren, war zwölf Tage krank", erinnert sich Muhamadreza. Das Gefühl, alles zu verlieren, was er sich in Finnland aufgebaut hatte; seine Ausbildung, die Aussicht auf einen Job, all das zermürbte ihn. Als er in Hamburg eintraf, kam ihm erstmals der Gedanke, alles hin zu schmeißen. Er hatte genug von Europa.
Als er nach Bremen kam, suchte er nach kurzer Zeit die Rückkehrberatung auf, denn in der Unterkunft traf er Afghanen, die dort seit Monaten leben ohne ihren Asylantrag gestellt zu haben. Muhamadreza sagt, er könne es sich nicht leisten, in Deutschland Monate auf einen Termin beim Sozialamt zu warten, Jahre vergehen zu lassen, bis er einen Job bekomme. Seine Freunde, die ihm die 5000 Dollar geliehen haben, machen Druck. Sie hätten ja selbst kaum Geld. „Ich muss arbeiten", sagt er. Der Vater ist tot, er ist der Versorger, der aus dem Ausland Geld schicken soll.
Wieder zückt Muhamadreza sein Handy und zeigt Fotos. Eines zeigt einen Raum, der unter Wasser steht und in dem Matsch den Boden bedeckt. So sähen die Duschräume in der Flüchtlingsunterkunft oft aus, sagt Muhamadreza. Ein anderes Bild zeigt ein Lunchpaket. Ein Apfel, eine Birne, ein Stück Fladenbrot, ein Müsliriegel, eine Tomate und noch ein Stück Brot. „Das war unser Mittagessen", klagt er. „Das ist doch kein richtiges Mittagessen." Er wolle nicht undankbar wirken, betont er. Die Bremer seien sehr hilfsbereit. Auch den gelben Pullover konnte er sich nur kaufen, weil ihm jemand auf der Straße 20 Euro geschenkt hatte. Doch das Essen und die Unterbringungen seien schlecht. Auch das trage dazu bei, dass er sich nicht wohl fühle.
Dabei ist es für den Afghanen gar nicht so einfach, in seine Heimat zurückzukehren. Der 21-Jährige hat einen afghanischen Pass, wuchs aber als Flüchtling im Iran auf. Seine Familie floh wie rund drei Millionen Afghanen in den Achtzigerjahren in das Nachbarland. Das Rückkehrerprogramm der deutschen Bundesregierung kann ihn jedoch nur in das Land bringen, in das er legal einreisen kann − also nicht in den Iran. Dort leben Afghanen wie Menschen zweiter Klasse. Sie dürfen weder legal arbeiten, noch erhalten sie ein dauerhaftes Bleiberecht.
Im Iran habe er als Mechaniker in einer Werkstatt gearbeitet. Dann sei ihm folgender Deal angeboten worden: Wenn er für den Iran in Syrien kämpft, an der Seite der Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, und dabei stirbt, erhält seine komplette Familie einen Pass. Wenn er nach zwei Jahren noch lebt, erhält nur er einen Pass. Das iranische Regime umwirbt Berichten anderer Medien zufolge bewusst verarmte Afghanen für den Kampf in Syrien, denn die suchen einen Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit. Auch Muhamadreza willigte ein. Doch im letzten Moment habe er sich umentschieden, sagt er. Er wollte doch nicht kämpfen. Im Iran sei er daraufhin als Verräter beschimpft worden. Er fasste den Entschluss, nach Finnland zu gehen.
Wenn der Afghane nun also nach Kabul fliegt, kehrt er zwar in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurück, das Land ist ihm jedoch unbekannt. Er landet in Kabul, einer Stadt, in der er niemanden kennt. Immerhin die Sprache kann er. Finnisch zu lernen, dazu war er motiviert. Er habe sich jeden Tag nach seinem Sprachkurs fünf Stunden zum Lernen hingesetzt, sagt er. Jetzt mit Deutsch wieder bei Null anzufangen, dazu fehlt ihm die Kraft.
Auch immer mehr Syrer wollen wieder zurück, berichtet Ewerts von der Awo Bremen. In ihre Heimat oder zumindest in die Türkei oder den Libanon, wo Familien festsitzen. „Denen können wir nicht helfen", sagt Ewerts. Ausreisen nach Syrien organisiert die Internationale Organisation für Migration (IOM) nicht, sie kümmert sich um die Durchführung der Rückreisen. Zu gefährlich. Deshalb flögen einige Syrer auf eigene Faust zurück in die Türkei, wenn sie einen günstigen Flug ergatterten. „Manchmal bietet Condor Flüge für wenige Euro an oder Vereine sammeln Spenden für solche Reisen", so Ewerts.
Bei der Awo in Bremen sehen die Berater einen Zusammenhang zwischen den steigenden Quoten beim so genannten subsidiären Schutz und dem Ausreisewunsch von Syrern. Wer nicht als politisch Verfolgter oder Flüchtling nach der Genfer Konvention anerkannt wird, sondern nur Schutz aufgrund von Bürgerkrieg im Heimatland erhält, kann Familienangehörige erst nach zwei Jahren nachholen. Die Zahl derjenigen, die das betrifft, steigt. Während im gesamten Jahr 2015 nur 0,7 Prozent der syrischen Flüchtlinge subsidiären Schutz erhielten, waren es im Mai 2016 schon 15,3 Prozent der Antragsteller.
Auch dass immer mehr Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden, lässt die Zahl der Rückkehrer steigen. Viele Flüchtlinge ziehen eine geordnete, selbstbestimmte Ausreise einer Abschiebung vor. Der Verband Pro Asyl kritisiert deshalb die Bezeichnung „freiwillige Rückkehr", da die Statistik nicht unterscheidet zwischen denen, die wie Muhamadreza ihren Asylbescheid abwarten oder trotz positiven Bescheids gehen, und denen, die zurückkehren, weil sie nicht bleiben dürfen.
Viele, die zur Rückkehrberatung kämen, sagt Awo-Mitarbeiterin Stephanie Guirten, hätten keine andere Wahl. Menschen vom Westbalkan zum Beispiel. Sie wollen über eine freiwillige Ausreise einer Abschiebung entgehen. Bei der Awo betont man: „Wir bekommen keinen Preis dafür, je mehr Menschen wir zurückschicken." Linksradikale Gruppen kritisieren die Awo für ihre Rückkehrberatung und hatten im Frühjahr die Geschäftsstelle mit Farbbeuteln beworfen.
Die Rückkehrberatung kontaktiert die IOM, die den Flug oder Bus für die Ausreisenden bucht. Die Kosten trägt die Bundesregierung. Gerade einmal vier bis sechs Wochen vergehen, bis der einstige Asylbewerber das Land verlassen kann. Die Beratungsstelle kontaktiert dazu das Sozialamt, die entsprechende Botschaft zur Organisation eines Passes und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Normalerweise können die Beratungsstellen über eine Datenbank sogar Informationen für den Heimkehrer anfragen. Zum Beispiel, ob ein spezielles Medikament an dem Ort verfügbar ist, wie teuer die Miete für eine Dreizimmerwohnung ist, oder wieviel die Gründung einer Pizzeria kosten würde. Die Rückkehrer sollen so ihre Zukunft besser planen können.
In der Realität scheint oft schlicht zu wenig Zeit für eine intensive Beratung da zu sein. Angesichts des massiven Anstiegs der Fälle sei die Bremer Beratungsstelle zeitweise völlig unterbesetzt gewesen. Auch reichten die Sprachkenntnisse oft eher für rudimentäre Gespräche. Erst seit kurzem arbeitet bei der Awo eine Beraterin, die Persisch spricht. Weil viele Flüchtlinge aber kaum Deutsch sprechen und es keine Übersetzer gibt, werden Bekannte oder Freunde zum Übersetzen mitgebracht. Ganze Lebensgeschichten ließen sich so selten erfahren.
Muhamadreza ist am Mittwoch in Kabul aus dem Flugzeug gestiegen. Niemand, sagt er zuvor, wird ihn dort abholen. In seinem Gepäck: 200 Euro Reisebeihilfen und 500 Euro Starthilfe in Bar. Das ist Teil des Programms namens Reag/Garp, mit dem die Bundesregierung Ausreisen fördert. Es gäbe noch ein von der EU finanziertes Programm, das Rückkehrer bei der Jobsuche unterstützt und Kleinkredite für eine Geschäftsgründung vergibt. Muhamadreza hatte darauf keinen Anspruch, weil er weniger als drei Monate in Deutschland war.
Muhamadreza wollte zurück, trotz all der Widrigkeiten. Wie stellt er sich seine Zukunft vor? „Keine Ahnung", sagt er. Er zuckt mit den Schultern und meint: „Vielleicht werde ich in Kabul von einer Bombe getroffen, aber mein Leben ist sowieso kaputt." Vielleicht reist er auch illegal in den Iran weiter, zu seiner Familie. Oder er geht doch kämpfen, überlegt er. Sein Onkel habe das ja auch gemacht.
Jeder Asylbewerber oder Ausländer in Deutschland kann, wenn er in seine Heimat zurückkehren will oder muss, das Rückkehrprogramm der Bundesregierung in Anspruch nehmen. Die Rückkehrberatung führen Sozialverbände, Ausländerbehörden oder Bürgerämter durch. Nach dem Motto „Freiwilligkeit vor Zwang" fördern vor allem Bundesländer wie Bremen eine freiwillige Rückkehr. Neben den Menschen, deren Asylantrag abgewiesen wurde, gibt es auch Menschen aus Bürgerkriegsregionen, die gute Chancen auf Asyl oder einen Schutzstatus haben, und trotzdem das Land wieder verlassen wollen.
Wer freiwillig ausreist, muss einen Antrag unterschreiben, in dem er oder sie versichert, alle Bemühungen für einen weiteren Aufenthalt in Deutschland aufzugeben oder das erteilte Aufenthaltsrecht abzugeben. Wer nur mit einem befristeten Visum eingereist ist, zum Beispiel Studenten, kann das Rückkehrprogramm nicht nutzen. An großen Flughäfen wie Frankfurt am Main betreuen Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) die Rückkehrer. Oft reisen sie jedoch, wie ein ganz normaler Passagier ohne Begleitung mit dem bezahlten Flug- oder Busticket. Für die Ausweiskontrolle erhalten sie zuvor Pässe aus ihren Botschaften.
Wer wieder nach Deutschland einreist, muss das Geld zurückzahlen, das er oder sie vom Rückkehrprogramm erhalten hat. Mittellose Rückkehrer bekommen 200 Euro Reisebehilfen und je nach Herkunftsland eine Starthilfe. Iraker, Iraner, Afghanen, Nigerianer, Eritreer, Ghanaer und Pakistaner bekommen 500, Ausreisende aus afrikanischen Ländern, Ägypten, Türkei oder dem Libanon 300 Euro. Für Kinder gibt es jeweils die Hälfte. Die Gelder sind zu Anfang 2016 gekürzt worden. Zuvor waren es für die erste Staatengruppe 750 Euro. Menschen aus dem Westbalkan wie Kosovo, Montenegro oder Rumänien erhalten weder Reisebeihilfen noch Startgeld.
Der Vorteil einer freiwilligen Ausreise gegenüber einer Abschiebung ist, dass der Zeitpunkt zuvor bekannt ist. Bei einer Abschiebung kommt die Polizei seit kurzem ohne Vorankündigung, damit die Menschen nicht untertauchen können. Einige abgelehnte Asylbewerber hatten bislang mit Hilfe von ärztlichen Attesten versucht, eine drohende Abschiebung zu verhindern. Ärzte belegten dazu, dass sie nicht reisefähig sind. Die Richtlinien für diese Attests sind Mitte März mit dem Asylpaket II verschärft worden.