Der 31 Jahre alte Lavinj* ist vom Irak nach Deutschland geflohen. Carolin Henkenberens stand über Telefonate und Chats in Kontakt mit ihm. Sie hat protokolliert, was er auf seinem Weg über den Balkan erlebt hat. Über den ersten Teil seiner Reise über die Türkei und das Mittelmeer hatte der WESER-KURIER zuvor berichtet.
10. Oktober, kurz nach Sonnenaufgang
Das Schlauchboot hat das Ufer erreicht: Lesbos. Nach dreistündiger
Überfahrt auf dem Meer betritt die 40-köpfige Gruppe europäischen Boden.
Alle sind erleichtert. Auf einem Foto, das Lavinj von sich vor dem Meer
gemacht hat, sieht er müde aus, die orangene Schwimmweste trägt noch.
Das Foto soll beweisen: Ich hab’s geschafft. Danach seien sie drei
Stunden zu Fuß gelaufen, zum zentralen Flüchtlingscamp im Süden der
Urlauberinsel. Dort gibt es Essen und – noch viel wichtiger – die
Registrierungspapiere, mit denen Lavinj und die anderen Flüchtlinge auf
die Fähre nach Athen dürfen.
10. Oktober, abends
Anruf von einer unbekannten Nummer. Es ist Lavinj, der sich ein
Telefon geliehen hat, denn seine türkische Sim-Karte funktioniert nicht.
„Hier im Camp ist es dreckig, es gibt keine Duschen. Morgen geht es mit
der Fähre weiter nach Athen“, berichtet er. 50 Euro pro Person kostet
die Überfahrt. Wo sie schlafen? Draußen vermutlich. Das wichtigste ist
jetzt eine neue Sim-Karte.
11. Oktober
Lavinj schickt seine neue Nummer.
12. Oktober, 9.05 Uhr
Nach wenigen Freizeichen nimmt er ab, im Hintergrund ist es laut.
„Ich bin gerade am Busbahnhof in Athen. Wir haben vorhin unser Ticket
gekauft zur mazedonischen Grenze“, schreit er in die Leitung. „Jetzt
kommt der schwierige Teil der Reise. Bisher lief ja alles gut.“ Vor
europäischen Grenzzäunen habe er mehr Angst als vor dem tiefen Meer.
12. Oktober, 14.40 Uhr
Lavinj ist jetzt im Bus Richtung Mazedonien, die Grenze wird er gegen
19 Uhr erreichen. „Ich fühle mich sicher und traurig“, schreibt er.
„Meine Familie ist immer noch in der Hölle.“ Über Facebook hält er mit
ihr Kontakt. Gleich ist sein Akku leer.
13. Oktober, 18.18 Uhr
Der Facebook-Messenger piepst. Lavinj ruft an - über das Internet. Doch die Verbindung schlägt fehl. „Hallo, ich laufe gerade in Serbien", schreibt er. „Ich habe kaum Akku, nutze das WLAN von einem Haus. Mir ist schwummerig und ich bin müde." Seine griechische Sim-Karte funktioniere nicht mehr. „Wir reden später", schreibt er und ist wieder offline.
Der Facebook-Messenger piepst. Lavinj ruft an – über das Internet. Doch die Verbindung schlägt fehl. „Hallo, ich laufe gerade in Serbien“, schreibt er. „Ich habe kaum Akku, nutze das WLAN von einem Haus. Mir ist schwummerig und ich bin müde.“ Seine griechische Sim-Karte funktioniere nicht mehr. „Wir reden später“, schreibt er und ist wieder offline.
>> Den ersten Teil des Fluchtprotokolls lesen Sie hier.
13. Oktober, 22.40 Uhr
Lavinj ist online. „Now we pull to Korwatia border“, schreibt er und meint „Croatia“, Kroatien. Durch welche Orte ist er gekommen? „Durch Mazedonien ging es mit dem Zug“, berichtet er. Dieser sei alt, dreckig und voll gewesen. Einen Teil der Strecke habe er stehen müssen. Die Männer wechselten sich alle paar Stunden ab, damit jeder mal auf dem Boden sitzen und kurz schlafen konnte. Die Fahrt habe mehr als zehn Stunden gedauert. Fast wäre der Zug mit einem anderen zusammengestoßen, 200 Meter vor dem Crash kam er zum Stehen, schreibt Lavinj. Die Vollbremsung habe die Weiterfahrt verhindert, bestimmt zwei Stunden hätten sie gestanden. Oder waren es drei? Seine Erinnerung ist verschwommen. An der Grenze zu Serbien ging es nach einem Fußmarsch mit dem Bus weiter. Wo genau war er, wo ist er und wo geht es hin? „I don’t know“, tippt er. Er weiß nur, dass er heute zwei Grenzen passiert hat, jene zwischen Griechenland und Mazedonien und jene zwischen Mazedonien zu Serbien. „Ich kann Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden. Es ist wie ein Albtraum...“ Er brauche Kaffee oder Tee. „Kannst du mir sagen, welches Land als nächstes kommt?“, fragt er. Es müsste Slowenien sein, dann Österreich, dann Deutschland. Er entschuldigt sich, er müsse aufhören zu schreiben: Der Busfahrer will sein Geld, 35 Euro.
13. Oktober, 23.22 Uhr
Lavinj schickt ein Selfie aus dem Reisebus. Er trägt ein rot-grau kariertes Hemd, sein müder Blick geht an der Kamera vorbei. Was denkt er? „Ich sehe die Menschen, die am gefährlichsten für die Welt sind, direkt neben mir“, schreibt er. Er meint Muslime. Für ihn sind diejenigen, die für den Islamischen Staat kämpfen, Grund, den gesamten Islam zu hassen. Dass sie die Religion nur benutzen, dass der Islam per se nicht gewalttätig sein muss, will er nicht sehen. Die Kämpfer zitieren doch den Koran, meint er. Und Al-Kaida, das seien doch auch Anhänger des Islam. Und was ist mit seinen muslimischen Freunden? Ja, die habe er. Aber ein Kindheitsfreund, der wie ein Bruder für ihn war, sei zum IS übergelaufen. Er hat darüber ein Gedicht geschrieben, er will es irgendwann ins Englische übersetzen. Dann verabschiedet sich Lavinj, er möchte seiner Schwester eine Nachricht schreiben. „And I need to sleep.“ Er ist müde vom langen Laufen heute. In sechs Stunden wird er in Kroatien sein. Dort wartet möglicherweise wieder ein Fußmarsch.
14. Oktober
Die Nachricht „Guten Morgen, bist du angekommen?“ hat Lavinj auch abends noch nicht gelesen, verrät Facebook.
15. Oktober
Noch immer kein Lebenszeichen.
16. Oktober, 8.30 Uhr
Keine neue Nachricht, weder im Postfach noch auf dem Handy.
16. Oktober, 21.10 Uhr
„Fünf
verpasste Anrufe von Unbekannt“ zeigt das Display an, der erste kam
schon am frühen Nachmittag. Mist. Das Handy hatte zu Hause gelegen,
ausgerechnet heute. Ist Lavinj etwa schon in Deutschland? So schnell?
Ich rufe die erste fremde Nummer zurück. Eine Frau nimmt ab, sie stellt
sich als Mareike vor. Sie ist eine von vielen Tausenden Helfern in
Deutschland, arbeitet für den Malteser Hilfsdienst und hat Lavinj am
Morgen von Passau mit dem Zug nach Düsseldorf begleitet. „Er hatte kein
funktionierendes Telefon und wollte meines benutzen“, sagt sie. Um 19
Uhr sei Lavinj in Düsseldorf angekommen, mehr weiß sie auch nicht. Unter
der zweiten Nummer ist niemand zu erreichen.
16. Oktober, 22.50 Uhr
Nach
dem sechsten Versuch nimmt jemand ab. Laute Hintergrundgeräusche. Wer
ist da? „Ich bin es: Lavinj“, sagt die bekannte Stimme. Eine
Lautsprecherdurchsage eines Bahnhofes unterbricht das Gespräch. Danach
spricht wieder jemand anderes. Ein deutscher Helfer erklärt, dass Lavinj
nun in einen Zug Richtung Bielefeld steigt, wo ihn Freunde abholen. Ich
frage, ob alles in Ordnung ist mit ihm. Der fremde Mann übersetzt
Lavinj die Frage auf Kurmandschi. „Ja, er ist in Ordnung“, sagt der Mann
auf Deutsch. Lavinj übernimmt wieder das Telefon, es sprudelt aus ihm
heraus: „An der Grenze... das war schrecklich. Sie haben uns behandelt
wie Tiere, wie Tiere. Sie haben meine Würde beschädigt.“ Sein Zug fährt
gleich ab.
17. Oktober, 14.32 Uhr
Das
Handy blinkt, SMS von Lavinj: „Guten Morgen, wie geht’s? Ich fühle mich
so gut heute Morgen, habe gut geschlafen, meine Haare geschnitten,
geduscht, gut gegessen.“ Es ist sein erster Morgen in einem neuen Land.
Wir verabreden uns für ein Treffen.
18. Oktober, 10.43 Uhr
Lavinj
sitzt im ostwestfälischen Bielefeld an einem großen Küchentisch und
schmiert Frischkäse auf sein Brot. Zaghaft, mit der vordersten
Messerspitze verteilt er den winzigen Klecks Aufstrich. Erst einmal
probieren. Auch die Scheibe Brot hat er in vier kleine Quadrate
geschnitten. „Und was ist das?“, fragt er und zeigt auf eine Scheibe
rohen Kohlrabi. Er beißt ab, überlegt kurz und meint: „That‘s good!“ Die
Frühstücksbräuche – wie so ziemlich alles in diesem kalten Land – sind
eine fremde Welt für Lavinj, langsam tastet er sich in ihr vor. „Als
Flüchtling ist man wie blind“, sagt er. Blind und hilflos; wie ein Kind,
das Banales noch lernen muss. Butterbrote schmieren und Milch von Kühen
trinken zum Beispiel.
In seiner Heimat im Irak aß Lavinj
Weizenbrot und trank Ziegenmilch. Doch seine Heimat ist weit weg an
diesem Morgen im Haus eines befreundeten Deutschen, der ihn aufgenommen
hat. Er wollte sich dort noch einmal ausruhen, bevor es ins
Flüchtlingscamp geht. Ein Lichtblick am Frühstückstisch: die gelbe Dose
Sardinen. Lavinj hat sie kurz vor seiner Abreise im irakischen
Flüchtlingscamp in Zakho gekauft. Das war vor knapp zwei Wochen. Doch
das einzige Mitbringsel aus seiner Heimat leert sich. Der Fisch ist mit
ihm mitgereist. Lavinj hat ihn nicht aufgegessen, in der Türkei nicht,
von wo er in ein Schlauchboot stieg, im Zug quer durch Mazedonien nicht
und auch am Busbahnhof in Wien nicht.
18. Oktober, 12.30 Uhr
Nach
dem Essen beginnt er von dem Teil seiner Reise zu berichten, an dem der
Kontakt abgebrochen war, weil er drei Tage weder Internet noch Telefon
hatte. Drei Tage, an denen er durch Matsch gewandert ist, kaum schlief.
Woher kannte er den Weg? „Wir sind einfach der Herde gefolgt, wie
Schafe“, sagt er. Irgendjemand habe immer gewusst, wo es langgeht. Mal
war es eine Frau, mal ein junger Mann. Er selbst hat keine Ahnung, wo
genau er lang gekommen ist. Wie in Trance sei er einfach mitgeschwommen
im Strom. Wenn er von Ungarn erzählt, sagt er fälschlicherweise
Bulgarien, Österreich wird zu „dem letzten Land vor Deutschland“.
Gemeinsam zählen wir auf Google Maps die Grenzen, die er in sechs Tagen
passiert hat: Es sind sechs.
Die Stimmung unter den Flüchtlingen
vergleicht er mit einem Rennen, jeder wollte schnell vorankommen, der
erste am nächsten Grenzpunkt sein, wo die Vereinten Nationen und das
Internationale Rote Kreuz Essen verteilen. In diesem Rennen fühlte
Lavinj sich stets wie einer der Langsamsten. Die befreundeten Frauen,
mit denen er unterwegs war, konnten nicht so schnell laufen. Im Zug
durch Mazedonien, im Bus und zu Fuß durch Serbien. Von dort mit dem Bus
weiter nach Kroatien. Nach der Ankunft in Kroatien habe die Gruppe
geglaubt, die Grenze zu Ungarn sei dicht, sagt er. Doch nette Polizisten
hätten ihnen weitergeholfen und erzählt, die Grenze sei offen. Also
ging es doch durch Ungarn statt durch Slowenien.
„Es fühlte sich
ein bisschen an wie Krieg“, sagt er und steht auf, geht unruhig in der
Küche umher. An der Grenze zu Ungarn habe ein Polizist eine alte Frau an
der Schulter geboxt, sie seien angeschrien worden. Der Tiefpunkt kam in
Wien. „Ich war so erschöpft“, sagt er und geht in die Hocke, um zu
demonstrieren, wie er sich am Boden zusammengekauert hat. Vier Stunden
warteten sie dort, dann nahmen sie den Bus zur deutschen Grenze.
18. Oktober, 15 Uhr
Lavinj
schultert seinen kleinen Rucksack, den er eigentlich nicht benötigt,
weil er das T-Shirt und die Zahnbürste auch einfach in seine Hosentasche
stecken könnte. Er will nach Köln, dort hat er jesidische Freunde aus
dem Irak. Nach einem kurzen Besuch bei ihnen wird er sich den deutschen
Behörden stellen. Sein braunes Shirt trägt die Aufschrift „The World is
Our“.
*Name der Redaktion bekannt.
>> Den ersten Teil der Flucht lesen Sie hier.
Wie der Kontakt zu Lavinj zustande kam:
Kennengelernt hat die Autorin Lavinj über einen privaten Kontakt, der im Irak für eine deutsche Hilfsorganisation arbeitet. Die Organisation war für Behördengänge auf der Suche nach einem Übersetzer. Dieser Übersetzer war Lavinj. Weil er neugierig auf „die Deutsche“ am anderen Ende der Leitung war, saß er eines Tages mit vor der Skype-Webcam und erzählte von sich und seinen Plänen der Flucht.
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