„Dein Leben hängt davon ab, was du aus dem machst, was aus dir gemacht worden ist." Über dieses Zitat von Jean-Paul Sartre sollen die Schüler diskutieren, lautet der Arbeitsauftrag von Marina Helmedag. Die zierliche Frau unterrichtet Deutsch. Kaum zu glauben, dass sie sich vor einer Klasse mit Ex-Drogenjunkies durchsetzen kann. Wenn sie spricht, ist es mucksmäuschenstill.
Helmedag ist eine der insgesamt 25 Lehrerinnen und Lehrern, die am 1971 gegründeten Bildungszentrum Hermann Hesse (BZH) arbeiten. Hier können ehemals drogenabhängige Jugendliche einen Schulabschluss machen. 140 Plätze hat die Schule, im Schnitt sind die Schüler 24 Jahre alt. Das BZH ist eine staatlich anerkannte Privatschule. Auf den Abschlusszeugnissen steht trotzdem ein anderer Schulname. Schließlich sollen die Schüler bei künftigen Bewerbungen dieselben Chancen haben wie andere.
OB-Programmcheck Bei der Bildung sind sich die ...Frankfurt braucht mehr Schulen - und diese saubere Toiletten. Das ist auch den Kandidaten klar, die sich um das Amt des Oberbürgermeisters bewerben. Die Unterschiede in ihren Programmen, wenn es sie überhaupt gibt, liegen im Detail. Wir stellen die Positionen gegenüber.
clearingAls Nadine spricht, hören ihre Mitschüler ruhig zu. Mit zwölf Jahren hat die junge Frau zum ersten Mal gekifft, mit 14 nahm sie Speed. Seit einem halben Jahr ist die 23-Jährige am BZH. „Ich kam, als es mir richtig scheiße ging. Da hatte ich einen richtig heftigen Absturz." Den letzten Rückfall hatte sie, als ihr Vater starb und sie ihre ungeborenen Zwillinge verlor.
„Wir sind hier bei Gleichgesinnten. Hier ist es viel besser als an anderen Schulen", sind sich die Jugendlichen einig. „An meiner alten Schule wurde ich gemobbt", erzählt Nadine. „Die haben mich bespuckt und geschlagen." Sieben Mal habe sie die Schule gewechselt. Nach ihrer Zeit am BZH möchte sie Politik studieren.
Die Schule sieht aus wie jede andere. In dem langen Flur im ersten Obergeschoss sind die Büros der sechs Sozialarbeiter. Neben dem regulären Unterricht treffen sich die Jugendlichen einmal pro Woche mit ihnen.
Mehrere Anläufe„Das macht uns einzigartig", sagt Schulleiter Jan Große, der mit seinen verwaschenen Jeans und Ohrringen wie der klassische „Kumpel-Typ" wirkt. „Bei uns werden die Schüler nicht nur unterrichtet, sondern erhalten auch Hilfe, wenn es zum Beispiel um Anträge bei Ämtern geht." Die meisten duzen sich hier, auch das sorge für einen „Kontakt auf Augenhöhe", findet Große.
Gut 1 400 Schüler haben bis heute ihren Abschluss gemacht. Alleine im vergangenen Jahr waren es 28, fünf von ihnen schafften das Abitur. Etwa zehn bis 15 Prozent brauchten einen zweiten oder dritten Anlauf, einige haben es nie gepackt. „Den ein oder anderen habe ich in irgendeiner Ecke am Bahnhof wiedergetroffen, manche sind sogar gestorben", erzählt der Schulleiter, berührt und gefasst zugleich.
Rausgeschmissen werden die jungen Erwachsenen nur, wenn sie gewalttätig werden. Auch Drogen sind tabu. Das steht im Vertrag, der zu Beginn zwischen Schüler und BZH aufgesetzt wird. Darin müssen sich die Jugendlichen auch bereit erklären, jederzeit Urinproben abzugeben.
„Wir sind hier keine Bus-Kontrolleure. Solche Tests führen wir nur durch, wenn ein akuter Verdacht besteht", erklärt der ehemalige Gymnasiallehrer Große. Einige Schüler versuchten dann auch zu schummeln, indem sie Urin mit Wasser verdünnten. In so einem Fall könne der Vertrag gekündigt werden. „Das ist in 46 Jahren aber sehr, sehr selten passiert", sagt Große.
Jeremias hat große Pläne. Der 20-Jährige möchte Pädagoge werden. „Mir haben so viele Leute geholfen. Ich will einfach was zurückgeben." Mit 16 ist er abgestürzt. Auch bei ihm hat es mit Kiffen angefangen. Später kam Kokain dazu. Einmal hat er seinem Bruder 500 Euro aus der Abi-Klasse geklaut. „Erst als meine Schwester ihr Kind bekommen hat und meinte: So einen Onkel will ich nicht für mein Kind, da fing ich eine Therapie an." Die Therapeuten legten ihm das BZH ans Herz. Seit Mitte September ist er hier.
Wichtige ErfahrungenÜber die Hälfte der Schüler haben neben ihrem Suchtproblem eine Krankheit wie Schizophrenie, ADHS oder Borderline. Oft können sich die jungen Erwachsenen nur schwer konzentrieren, sich Dinge kaum merken. Aber die Erfahrungen der Jugendlichen könnten manchmal auch von Vorteil sein, erzählt Große. „Wenn wir zum Beispiel Georg Büchners ,Lenz' lesen und über Schizophrenie sprechen. Dann können die Schüler auch wirklich mitreden, weil sie so etwas zum Teil selbst erlebt haben."
„Was aus dir gemacht worden ist" - es kommt nicht oft vor, dass die Jugendlichen untereinander über ihre Vergangenheit sprechen. „Wir sind clean, wir reden über andere Sachen", sagt ein Schüler. Die anderen nicken zustimmend.