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Sengende Hitze, Entflammte Herzen

Wir schreiben das Jahr 1976. Unter der extremen Sommerhitze leiden Mensch und Tier. Der 13-jährige Gus wächst auf einem Hof auf und muss erleben, wie sich sein gesamtes Umfeld drastisch verändert.

von Bruno Angeli

Gus (Luc Bruchez) ist 13 Jahre alt und immer mit seinem etwas zu grossen Velo unterwegs. Das bedeutet für ihn Spass und Freiheit. Gezeigt wird dies in «Le milieu de l’horizon» in schön eingefangenen, bewegten Bildern, die – wir befinden uns ja im Jahre 1976 – auf 35-Millimeter-Film aufgenommen wurden. Gerne würde Gus seine Ferien mit Comiclesen und Velofahren verbringen. Doch der von seinen Eltern geführte Hof muss unterhalten werden. Gus wird gebraucht. Sein Vater Jean (Thibaut Evrard), seine Mutter Nicole (Laetitia Casta) und seine Schwester Léa (Lisa Harder) kämpfen in diesem Rekordhitzejahr um die Existenz ihres Betriebs. Unterstützt werden sie dabei von dem als Knecht tätigen Rudy (Fred Hotier), der an Trisomie leidet. Derweil macht sich der Grossvater Annibal (Patrick Des­camps) rar und verbringt seine Zeit lieber beim alten Pferd Bagatelle.
Die grosse Hitze bringt die Hoftiere um. Besonders die Hühner, auf die Jean grosse Hoffnung gesetzt hat, sterben massenweisse. In Schutzkleidung gezwängt, tragen Gus, Jean und Rudy die toten Tiere aus den futuristisch anmutenden «Hühnerställen». Die Existenz des Hofes steht auf Messers Schneide, da taucht auch noch unvermittelt Cécile (Clémence Poesy) auf, eine Freundin von Nicole. Als Gus die zwei Frauen per Zufall in der Nähe seines Waldverstecks beim Küssen entdeckt, reagiert er verstört. Jetzt ist nicht nur der Hof in Gefahr. Er spürt, dass die gewohnte Familienstruktur auseinanderzubrechen droht.

«Die totale Freiheit»

«Le milieu de l’horizon» basiert auf dem gleichnamigen Roman des in Lausanne geborenen Gymnasiallehrers Roland Butikofer (der sich in seiner Rolle als Autor Roland Buti nennt). Butis Erstlingswerk wurde 2014 unter anderem mit dem Schweizer Literaturpreis prämiert. Kein Wunder, dass sich alsbald eine Produktionsfirma die Filmrechte sicherte. Die zentrale Frage, wie bei vielen Buchadaptionen, lautet: Ist die Verfilmung geglückt? Dazu nahm der Autor in einer Sendung des RTS (Radio Télévision Suisse) im vergangenen September wie folgt Stellung: «Ist ein Buch fertig, gehört es einem als Autor nicht mehr. So habe ich mein Buch nach dem Erscheinen über die Augen der Lesenden neu entdeckt. So soll auch die Regie die totale Freiheit haben und ihr eigenes Werk schaffen.» Dies hat die Regisseurin Delphine Lehericey auch getan: «Viele Infos im Buch sind nicht im Drehbuch vorhanden. Zum Beispiel gewisse Emotionen, Handlungen oder Blicke.» Vieles entstand vor Ort auf dem Set: «Oft habe ich Passagen aus dem Buch während des Drehs Luc, Lae­titia oder Thibaut vorgelesen. Das half mir, meine Sicht auf die Geschichte und das, was ich vom Buch rüberbringen wollte, den Schauspielern zu vermitteln.»
Wie auch immer: Mit «Le milieu de l’horizon» hat Delphine Lehericey eine Coming-of-Age-Story mit einer tollen Besetzung auf die Leinwand gebracht. Ein Film über Emanzipation, die harte Existenz der Bauern und die sich wandelnde Landwirtschaft. Ein sehenswerter Streifen, der seit Januar in Schweizer Kinos läuft.