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Streit ums Kastenwesen in Indien: Vom Segen des Rückständigen

DELHI taz | Im indischen Bundesstaat Gujarat sind bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten aus einer der größten Kasten und der Polizei neun Menschen ums Leben gekommen. Die Landesregierung bat am Mittwoch die Armee um Hilfe und verhängte eine Ausgangssperre in zahlreichen Städten und Gemeinden nachdem Demonstranten Regierungs- und Polizeigebäude angegriffen hatten, Steine flogen und Hunderte Busse in Flammen aufgingen.

In den Städten Surat, Vadodara, Mehsana, Rajkot und Morbi wurden Paramilitärs eingeflogen, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Premierminister Narendra Modi, der selbst aus Gujarat stammt, sah sich genötigt, in einer Fernsehansprache auf Gujarati zur Ruhe aufzurufen.

„Jedes Problem kann durch Gespräche gelöst werden", sagte Modi. „Ich appelliere an alle Brüder und Schwestern in Gujarat, keine Gewalt anzuwenden." Für Modi, der mehr als zwölf Jahre Ministerpräsident in Gujarat war und der seinen Heimatstaat stets als Modell für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in Indien angepriesen hat, sind die Unruhen besonders peinlich. Denn sie wirken wie ein Film aus einer anderen Zeit.

Die Patidars oder Patels, die derzeit auf die Straße gehen, sind eine der einflussreichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Kasten in Gujarat - und dennoch fordern sie nun, als rückständige Kaste anerkannt zu werden.

Es geht um Geld und lukrative Jobs

Die derzeitige Ministerpräsidentin Anandiben Patel, die wie ihr Vorgänger Modi der regierenden Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) angehört, ist eine Patidar. Ebenso wie der ehemalige Innenminister Vallabhbhai Patel, ein Mitstreiter Mahatma Gandhis. Ein Weiterer ist der Unternehmer Tulsi Tanti, der hierzulande bekannt ist, weil seine Firma Suzlon den deutschen Windanlagenbauer REPower übernommen hat.

Warum wollen die Patidars, die 15 Prozent der Bevölkerung in Gujarat ausmachen, als „Other Backward Caste" (OBC) in das komplizierte System von Quotierungen aufgenommen werden, das der indische Staat nach der Unabhängigkeit 1947 geschaffen hat, um den größten Ungerechtigkeiten des Kastensystems entgegen zu wirken?

Die kurze Antwort ist: Sie wollen an die - im Falle der Patidars vegetarischen - Fleischtöpfe von lukrativen Regierungsämtern und Studienplätzen, die in Indien zum großen Teil nach Quoten vergeben werden.

Die lange Antwort ist komplexer. Vieles spricht dafür, dass das Quotensystem mit der Entstehung einer neuen Mittelklasse in Indien an seine Grenzen stößt, aber niemand bisher weiß, wie es reformiert werden soll.

Auf der medialen Klaviatur

Während in den vergangenen zehn Jahren viele ehemals benachteiligte Kasten und deren Mitglieder aufgrund des Wirtschaftswachstums und erfolgreicher Lobbypolitik an Einfluss gewonnen haben (Premierminister Modi, der selbst einer OBC angehört ist einer von ihnen), wurden andere abgehängt.

Dazu gehören auch viele Patidars, die in der traditionellen Kastenhierarchie als Landbesitzer zwar direkt unter den Brahmanen angesiedelt, aber nicht reich geworden sind. Sie sehen sich bei Studienplätzen und Regierungsjobs einer vermeintlich unfairen Konkurrenz unterer Kastenmitglieder ausgesetzt.

Zugleich haben sie mit dem 22-jährigen Hardik Patel einen Anführer, der die gesamte Klaviatur der Social Media und politischer Mobilisierung beherrscht und einflussreiche Unterstützer gefunden hat.

Gut möglich, meint der französische Politologe Christophe Jaffrelot, dass der Bundesstaat Gujarat, wo bereits in den 80er-Jahren Kasten-basierte Quoten bekämpft wurden, als erster das System ändern werde. In einer Sackgasse befindet es sich allemal.

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