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Pakistan und Indien: Atommächte auf Konfrontationskurs

Nach dem Angriff in Kaschmir fordern indische Hardliner Vergeltung an Pakistan. Die strategischen Planer in Delhi sind im Dilemma.

Die Täter kamen im Morgengrauen über die Line of Control, die inoffizielle Grenze zwischen Indien und Pakistan, die das frühere Fürstentum Kaschmir durchschneidet. In nur drei Minuten warfen sie 17 Granaten auf die schlafenden indischen Soldaten, deren Zelte sofort Feuer fingen. Ein klassischer Überraschungsangriff, der ein sechs Stunden dauerndes Feuergefecht am Stützpunkt Uri nach sich zog und der indischen Armee die grössten Verluste seit 20 Jahren im Teilstaat Jammu und Kaschmir bescherte. Alle vier Attentäter wurden getötet, 17 Soldaten verloren ihr Leben, rund 30 wurden zum Teil schwer verletzt.

Geheimdienst in Verdacht

Nach Einschätzung von Generalleutnant Ranbir Singh, Generaldirektor für militärische Operationen bei der indischen Armee, deutet alles darauf hin, dass die Terrororganisation Jaish-e-Mohammad (JeM) für den Anschlag am Sonntag verantwortlich ist. Die Organisation wurde in den 1990er Jahren in Pakistan mit dem Ziel gegründet, den Teilstaat Jammu und Kaschmir von Indien abzuspalten.

Die JeM ist zwar in Pakistan verboten, ist aber weiterhin aktiv. Ihre wichtigste Basis ist Bahawalpur, eine Stadt im südlichen Punjab, wo die pakistanische Armee eine grosse Garnison hat. Sollte sich der Verdacht gegen die JeM bestätigen, kann davon ausgegangen werden, dass der pakistanische Geheimdienst ISI von dem Angriffsplan zumindest gewusst hat.

Wieder einmal steht die Atommacht Indien vor der Frage, ob sie einen Krieg mit Pakistan riskieren will. Das Nachbarland hat 1998 Atombombentests durchgeführt und hält sich die Option eines nuklearen Erstschlags offen. "Es gibt keine militärischen Optionen, die Indien das Ergebnis bescheren würden, das es haben will", sagt Manoj Joshi von der Observer Research Foundation, einer Denkfabrik in Delhi. Doch Hardliner in den indischen Medien und in der Hindu-nationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi rufen nach Vergeltung.

Seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren versucht Modi sich gegenüber Pakistan als starker Mann zu profilieren, ohne dabei aber den Gesprächsfaden abreissen zu lassen, bis jetzt mit wenig Erfolg. Indiens strategische Planer befinden sich im Dilemma: Eine Militäroperation an der internationalen Grenze könnte einen Atomkrieg nach sich ziehen, und das will man ausschliessen. Ein Einsatz im pakistanischen Teil Kaschmirs hingegen reicht vermutlich nicht aus, "um Pakistan dazu zu bringen, seine Jihad-Fabriken zu schliessen", wie Joshi es ausdrückt.

Ohnmächtiger Regierungschef

Islamabad weist derweil die indischen Anschuldigungen als "unbegründet und unverantwortlich" zurück. Doch nicht nur in Delhi schenkt kaum noch jemand diesen Statements Glauben. Ministerpräsident Nawaz Sharif, der mit dem hehren Vorsatz angetreten war, das Verhältnis zu Indien zu verbessern, wurde in den vergangenen Jahren vom pakistanischen Militär mehr und mehr zu einer Randfigur degradiert.

Der Einsatz von Guerillakämpfern gegen das militärisch überlegene Indien gehört seit der Teilung Britisch-Indiens in ein muslimisches Pakistan und ein säkulares Indien 1947 zum strategischen Arsenal der pakistanischen Armee, besonders in Kaschmir.

Das Gebiet ist ein Sonderfall in der Teilungsgeschichte des Subkontinents. Der hinduistische Maharaja von Kaschmir, der über eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung herrschte, wollte 1947 zunächst unabhängig bleiben. Doch schickte Pakistan paschtunische Stammeskrieger in sein Land. Der Maharaja bat zuerst die indische Armee um Hilfe und trat dann der indischen Union bei. Pakistan besetzte den westlichen Teil Kaschmirs, Indien den östlichen. Seitdem haben die beiden Staaten zwei Kriege um den geteilten Staat geführt. Eine vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 1948 geforderte Volksabstimmung hat nie stattgefunden.

Pakistan erhebt bis heute Anspruch auf ganz Kaschmir, entsprechend seinem Selbstverständnis als Heimstatt aller Muslime des Subkontinents, wie sie die Gründungsväter Pakistans in ihrer Zwei-Nationen-Theorie formuliert haben. Für Pakistan geht es somit um seine Identität. Indien hingegen fürchtet, dass eine Abspaltung Kaschmirs weitere Unabhängigkeitsbestrebungen befeuern könnte, die wiederum in einen Zerfall der indischen Union münden könnten. Davon ist Indien weit entfernt, aber Pakistan hat in der Vergangenheit keine Gelegenheit ausgelassen, Indien durch gezielte Nadelstiche in Kaschmir Schmerzen zuzufügen.

Gewaltwelle in Kaschmir

Eine neue Runde der Gewalt wurde im Juli dieses Jahres eingeleitet, als ein junger Rebellenführer, Burhan Wani, von indischen Streitkräften erschossen wurde und 20 000 Menschen zu seiner Beerdigung kamen. Jugendliche Steinewerfer fordern seither fast täglich die indischen Sicherheitskräfte heraus, es gab bereits 70 Tote und mehr als 7000 Verletzte. Wani gehörte der Hizbul Mujaheddin an, einer in Pakistan ansässigen islamistischen Gruppe, die als Terrororganisation eingestuft wird. Die Reaktion vieler Kaschmiri auf seinen Tod wurde auch in Indien als Hinweis auf die Ablehnung der lokalen Regierung gewertet. Diese wird von Modis Partei BJP in Koalition mit der Jammu and Kashmir Democratic People's Democratic Party gestellt.

Zwar wollen nur wenige Kaschmiri wirklich Pakistan beitreten, aber vor allem die Jugend sieht für sich kaum eine Perspektive in dem Teilstaat, der nicht zuletzt wegen des Konflikts zwischen Indien und Pakistan an der wirtschaftlichen Entwicklung im Rest Indiens kaum Anteil hat. Der Ruf nach Unabhängigkeit ist daher für viele die letzte Hoffnung. Es ist daher nicht überraschend, dass die Kräfte in Pakistan, die an einer Eskalation im bilateralen Verhältnis interessiert sind, an der Schraube der Gewalt ein bisschen weiter gedreht haben.

Pakistans Premierminister Sharif hat bereits früher angekündigt, Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir an der Uno-Generalversammlung diesen Mittwoch zum Thema zu machen. Modi will seinerseits Pakistans brutales Vorgehen gegen Rebellen in Balochistan auf die internationale Tagesordnung bringen.

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