Es ist das Battle-Buch zur Weltlage: Sibylle Bergs neuer Roman "GRM - Brainfuck" strotzt nur so vor feministischer Wut und Grusel-Dsytopien - Dystopien, die gerade deswegen so gruselig sind, weil sie schon morgen wahr werden könnten.
Es ist das Battle-Buch zur Weltlage: Sibylle Bergs neuer Roman "GRM - Brainfuck" strotzt nur so vor feministischer Wut und Grusel-Dsytopien - Dystopien, die gerade deswegen so gruselig sind, weil sie schon morgen wahr werden könnten.
"GRM - Brainfuck" ist ein Riesen-Rap-Roman, "wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben", wie Sibylle Berg es selbst ausdrückt. 600 Seiten Wut. Viel feministische Wut. Bisher kannte man so etwas nur aus Frankreich. Etwa von Catherine Breillat, Marie Darrieussecq oder Virginie Despentes. Aber Sibylle Berg übertrifft sie alle, an Furor, scharfer Analyse, Energie. Die 1962 in Weimar geborene Songtexterin, Theater- und Romanautorin sowie Spiegel-Kolumnistin ist die Pointenberserkerin der Stunde. Harte Pointen. Der Leser wird sich anfangs kaum entscheiden können: Ist das eine Zumutung oder ist das gut? Ich bin für: gut. Sehr gut sogar.
Die umwerfende Qualität von "GRM - Brainfuck" wird sofort klar, wenn man einen Abstand zur Battle-Rhetorik gefunden und die unipolare Erzählperspektive erkannt hat: Zu uns spricht ausschließlich die Autorin. Sie ist das Auge über den Verhältnissen. In einem totalen Überwachungsstaat der nahen Zukunft. "Teilweise haben wir das alles schon," erklärt Sibylle Berg. "In der Schweiz haben wir - also die Bevölkerung - beschlossen, dass der Staat Trojaner auf unserem Computer installieren darf, die den Mailverkehr überwachen können, die Suchaufrufe der Seiten überwachen können. Es denkt sich ja keiner was dabei. Weil es immer diesen komische Satz gibt: Ich habe nichts weiter zu verbergen. Das sind Szenarien, die nicht weit entfernt sind."
Dystopie als Schilderung der GegenwartSibylle Bergs Nahzeit-Dystopie spielt an zwei Orten, in Rochdale und London. 2012 haben junge Pakistaner zig weiße minderjährige Mädchen in Rochdale eingesperrt und zwangsprostituiert. Der Roman greift diesen Skandal auf. Die Grime-Luden holen solvente Kundschaft aus London, Studenten der Elite-Unis, die dann ihr Mütchen an den Kindern kühlen. Eine der schwer erträglichen Szenen des Buches, von der Autorin sarkastisch dargestellt.
Das Albinomädchen Karen ist eines der betäubten Kinder im Keller und eine der vier Hauptfiguren des Romans. Neben Don, einer kleinen kompakten Schwarzen, die sich schon mit acht geschworen hat, nie eine Frau zu werden, denn Frauen sind in der Hierarchie des Ghettos Dreck. Dreck, die deutsche Bedeutung von Grime. Don verliebt sich später in die Waise Hannah, die wiederum in den Autisten Peter verliebt ist.
Karen kann sich aus ihrem Folterkeller befreien, und die vier gehen nach London, verstecken sich in einer stillgelegten Fabrik außerhalb der Stadt mit dem Plan, von dort das System zu attackieren, etwa mit Testosteron vernichtenden Viren im Trinkwasser Londons. Denn sie glauben, dass damit 90 Prozent aller Weltprobleme zu lösen seien. Sibylle Berg winkt ab, das sei eine der im Roman ausprobierten Widerstands-Modelle, die sich nicht halten ließen: "Das ist eben auch das Unding, dass wir gerade einen Krieg gegeneinander führen. Männer gegen Frauen. Frauen gegen Männer. Wir sind alle wahnsinnig damit beschäftigt, uns zu hassen. Und das ist großartig, denn dann kann man sich nicht mehr darauf konzentrieren, zu überlegen, was an dem System nicht stimmt."
"GRM - Brainfuck" von Sibylle Berg
Der Roman birst vor Ideen, was alles noch passieren könnte in der nahen Zukunft: Jeder, der sich einen Chip unter die Haut schieben und - siehe China - rundherum überwachen lässt, bekommt zum Lohn ein Grundeinkommen. Arbeit gibt es eh kaum noch. Wer Geld braucht, kann ein Organ spenden. "Es ist ja wirklich die Frage," so Berg, "die auch dieses Buch behandelt: Wohin mit diesen Menschen, die eigentlich zu keiner Werterhaltungskette mehr beitragen können? Der neoliberale Gedanke ist ja eigentlich, dass reiche Menschen nicht für arme zahlen wollen."
Der Grusel, den "GRM - Brainfuck" entfaltet, liegt in der Massierung von Schreckensszenarien, die dem Leser fast schon ein wenig bekannt vorkommen. Ein junger Schauspieler, ein Präsidentendarsteller, wird englischer Premier. Im Netz, dort wo das Leben der meisten Bürger spielt, vertritt ihn ein lustiger Avatar unter der Regie britischer KI-Spezialisten. Aber dann versagt die Software und es scheint so, als ob das die Rettung bedeutet. "GRM - Brainfuck" ist eine geniale Riesenroman-Kolumne von Sibylle Berg, das Battle-Buch zur aktuellen Weltlage.
"GRM - Brainfuck" von Sibylle Berg ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Am Mittwoch, 24.04., 20 Uhr ist Sibylle Berg mit musikalischer Begleitung im Münchner Volkstheater zu Gast, um "GRM - Brainfuck" vorzustellen. Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Die tägliche Dosis Kultur - die kulturWelt als Podcast. Hier abonnieren! Hier geht's zur Anmeldung! SendungkulturWelt
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