0 subscriptions and 16 subscribers
Article

Homeoffice statt Pyramiden: Wie geht es Wissenschaftlern, die gerade nicht an Corona forschen?

In der Antike war die ägyptische Stadt Assiut, knapp 400 Kilometer südlich von Kairo gelegen, eine florierende Handelsmetropole. Die Ägyptologin Andrea Kilian von der Freien Universität Berlin erforscht, welche Waren dort umgeschlagen wurden und woher sie stammten. Eigentlich verbringt sie dafür rund zwei Monate pro Jahr in Ägypten. Vor allem die dort gefundenen Keramiken interessieren die Wissenschaftlerin. „Die antiken Scherben verraten uns viel. Durch ihre Form, die verwendete Tonart und die Brenntechnik erkennen wir das Alter und die Herkunft. Selbst den Inhalt können wir nach so langer Zeit teils noch bestimmen", erklärt sie.

Ihre Forschungsobjekte in der Hand gehalten hat die Ägyptologin aber seit anderthalb Jahren nicht mehr. Durch die globale Corona-Pandemie wurden die meisten Forschungsexpeditionen nach Ägypten gestrichen. Und die Ausfuhr von Funden ist streng verboten, auch für Forschungszwecke. Kilian rettet sich mit Literaturrecherche über die feldforschungsfreie Zeit, auch interessante Onlinevorträge zu antikem Handel besucht sie regelmäßig. „Das Ganze ist ein eher mäßiger Ersatz. Ich kann mir immerhin einen guten Überblick über den Forschungsstand verschaffen und schon wichtige Vorarbeit für Publikationen leisten", sagt sie. Es fehle ihr vor allem der Austausch mit den Kollegen und die Arbeit mit den Objekten in Ägypten. Ersteres geht noch einigermaßen per Videochat, letzteres lässt sich dagegen nicht digitalisieren. Ein simples Beispiel: Auf Fotos sehen viele dieser Scherbe verblüffend gleich aus. Im Feld stellt man mit geschultem Blick und starker Lupe schnell fest, dass locker einige hundert Jahre Altersunterschied zwischen den Tonscherben besteht.

Fleißarbeit am Schreibtisch statt Expeditionen

Wie Kilian geht es vielen Feldforscherinnen. Statt nach neuen Dinosauriern zu graben, seltene Tiere zu beobachten oder im Wüstensand nach Überbleibseln vergangener Kulturen zu suchen, machen die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit über einem Jahr Homeoffice und retten sich mit „Fleißarbeit" durch die globale Pandemie. „Wir alle haben Dinge auf dem Schreibtisch, für die im normalen Forschungsalltag kaum Zeit bleibt. Neben großen Herausforderungen ergeben sich hier natürlich auch Chancen", erklärt auch Andreas Mulch, Geowissenschaftler und Stellvertretender Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Daten werden nochmal unter ganz neuen Gesichtspunkten ausgewertet, wissenschaftliche Sammlungen auf den neusten Stand gebracht, Veröffentlichungen geschrieben, die sonst eher unter den Tisch fallen würden. Wissenschaftliche Onlineformate boomen ebenfalls. Statt für Konferenzen oder spannende Vorträge durch die Republik oder gar um die Welt zu reisen, findet der Austausch zwischen den Forscherinnen nun digital statt. Auch an effizienterem Austausch von Ergebnissen und Daten zwischen den Forschern weltweit wird dieser Tage viel nachgedacht. „In Sachen Vernetzung und Wissenschaftstransfer hat das letzte Jahr vielleicht sogar ein Fortschritt gebracht. Insgesamt halte ich den Verlust für die reine Wissenschaft für durchaus überschaubar", sagt Mulch. Auch Andrea Kilian sieht ihr Forschungsprojekt noch nicht in akuter Gefahr. Vielleicht bleibt sie bei der nächsten Expedition einfach ein paar Wochen länger in Asyut. Sogar eine Verlängerung der Projektgelder ist in Zeiten von Corona denkbar. Nicht um Jahre, aber wenigstens um ein paar Monate.

Keine Chance auf Abenteuer

Den größten Nachteil hat aus Sicht von Mulch aber der wissenschaftliche Nachwuchs. Viele Masterstudierende und Doktorandinnen und Doktoranden können für ihre Abschlussarbeiten keine Forschungsstationen besuchen oder selbst ausgraben, sondern müssen mit „alten" Daten und Proben arbeiten. Abenteuer sieht anders aus. Millionen Jahre alte Knochen in der Hand zu halten, vom Schiff aus Proben aus der kaum erforschten Tiefsee zu holen oder stundenlang durch den tiefen Dschungel zu stapfen, um eine seltene Vogelart zu beobachten - genau solche Momente machen für viele Forscherinnen und Forscher den großen Reiz ihrer Arbeit aus. „Ich habe Angst davor, dass vielen Studierenden und Doktoranden genau diese Erfahrungen verwehrt bleiben und sie deshalb der Wissenschaft schneller den Rücken kehren", sagt er. Die Faszination für die Forschung entstehe eben nicht vor Excel-Tabellen und Kisten voll mit Steinen, sondern draußen im Feld. Gleichzeitig sei die Begeisterung, das Brennen für das eigene Thema eine wichtige Voraussetzung für eine oft entbehrungsreiche und von Unsicherheiten geprägte Forschungskarriere.

Expedition fand ohne Doktoranden statt

Auch Franziska Tell wollte im letzten Jahr an Bord eines Forschungsschiffs in der Arktis reisen und dort im Eis Proben für ihre Promotion nehmen. Die Doktorandin untersucht am Bremer Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) anhand von Einzellern die Kohlenstoffkreisläufe der Meere. Hochrelevante Forschung, die helfen könnte, den Klimawandel und seine Auswirkungen noch besser zu verstehen. Die Expedition fand zwar statt - allerdings unter strengsten Hygienevorschriften. Quarantäne vor Reisebeginn, Einzelkabinen und vor allem weniger Menschen an Bord. Die Folge: Tell musste wie andere Doktoranden und Masterstudierenden auch auf ihren Platz verzichten. Erfahrenere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten Vorrang. „Ich muss jetzt erst mal mit bestehenden Proben und Daten arbeiten. Außerdem kümmere ich mich stärker um die Literaturrecherche für meine Doktorarbeit und schreibe so viel ich kann vor", sagt die Geowissenschaftlerin. Ob und wie viel Zeit sie durch die Pandemie verloren habe, lässt sich schwer einschätzen.

Als viel größeren Verlust empfindet sie ohnehin verpasste Chance auf wichtige Erfahrungen als Feldforscherin. Das Leben auf einem Forschungsschiff und Ökosystem der Arktis einmal hautnah zu erleben, Probe aus dem Eis zu sichern und gleich an Bord zu analysieren. Ein Forschungsaufenthalt an einer Partneruni in Irland wurde ebenfalls abgesagt. Stattdessen heißt es auch für Tell seit fast einem Jahr Homeoffice in Bremen. Selbst der Zugang zum Marum Labor ist wegen der Hygieneauflagen streng limitiert. Ohne vorherigen Antrag und gutem Grund darf niemand rein, auch die wichtige Unterstützung durch studentische Hilfskräfte fiel phasenweise komplett weg. „Ich muss die praktische Arbeit auf ein Minimum beschränken. Immerhin kann ich mehr digitale Vorträge und Onlinekonferenzen besuchen und mich intensiv auf meine nächste Reise vorbereiten", erklärt Tell. Wenn alles gut geht, ist für September eine neue Arktisexpedition geplant, von Kanada aus, unter strengen Hygienevorkehrungen, dafür aber mit genug Plätzen für Nachwuchswissenschaftlern.

Original