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Kinder mit Behinderung: "Mein Sohn ist von 7.30 bis 20.30 Uhr permanent an meiner Seite"

Eltern mit einem Kind mit Behinderung organisieren ihr Leben normalerweise mit einem Konstrukt aus fein aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Die Kinder besuchen eine Schule, inklusive Freizeitangeboten und Therapien. Ihnen wird für die Schule eine Betreuerin oder ein Betreuer gestellt und auch die Großeltern unternehmen stundenweise etwas mit den Kindern. Durch die Corona-Pandemie ist dieses Konstrukt zusammengestürzt. Kai Pakleppa, Familienexperte beim Lebenshilfe Bundesverband, sagt: "Viele Eltern, mit denen ich Kontakt habe, fühlen sich schlicht ungesehen und übergangen. Sie übernehmen nicht nur die Betreuung, sondern auch die Pflege und Förderung ihrer Kinder."

Tatsächlich kamen Kinder mit Behinderung in den Empfehlungen der Akademie der Wissenschaften Leopoldina oder in den Ansprachen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten bislang kaum vor. Dabei gibt es in Deutschland fast genauso viele Förderschulen wie Gymnasien. Verbindliche Vorgaben gibt es für sie anders als für alle anderen Schulformen nicht. An manchen Förderschulen startet der Betrieb wieder, allerdings nur für die Schülerinnen und Schüler, die die Hygieneregeln einhalten können. Andere bieten nur stundenweise eine Notbetreuung an. Es geht auch anders: In den Niederlanden etwa wurde der Regelbetrieb der Förderschulen als Erstes wieder aufgenommen. Von ihrem Alltag berichten drei Mütter.

Steffen* hat das Downsyndrom und besucht normalerweise eine Förderschule. Seit neun Wochen ist der 14-Jährige nun zu Hause. Über die herausfordernde Zeit berichtet seine Mutter Birgit Meier.

Steffen braucht aufgrund seiner Behinderung eigentlich den ganzen Tag unsere Aufmerksamkeit. Zum Beispiel läuft er weg, wenn wir nicht auf ihn achten. Auch sonst kann er sich selten mit sich selbst beschäftigen wie andere 14-Jährige ohne Behinderung. Mein Mann und ich arbeiten in der Logistikbranche. Homeoffice ist nicht möglich. Zum Glück leben die Großeltern nebenan und können uns wenigstens stundenweise entlasten. Sie sind beide über 80 Jahre alt und gehören zur Risikogruppe, aber anders geht es nicht. Für eine Betreuerin müssten wir 26 Euro pro Stunde zahlen und zwar aus eigener Tasche. In Vollzeit wäre das viel zu teuer, nur stundenweise hilft uns das wenig.

Ein typischer Tag sieht so aus: Nach dem Frühstück geht Steffen rüber zu Oma und Opa und ich fahre zur Arbeit. Nach zwei Stunden kommt mein Mann auf seiner Tour als Energie-Fahrer vorbei und nimmt unseren Sohn mit. Zum Glück versteht sein Chef unsere Situation und hat erlaubt, dass Steffen stundenweise im Lkw mitfährt. Im Prinzip mag Steffen die Fahrten, gerade wenn er beim Stopp auf dem Bauernhof Tiere beobachten und streicheln darf. Aber natürlich ersetzt das die Förderung in der Schule nicht. Sobald ich von der Arbeit zurückkomme, setzt mein Mann Steffen wieder zu Hause ab und ich übernehme.

Normalerweise spielt Steffen einmal pro Woche Fußball in einer inklusiven Mannschaft und reitet in einer Therapieeinrichtung. Beides vermisst er genauso schmerzlich wie die Schule. Er zieht sich jetzt öfter als sonst zurück, hört in seinem Zimmer Musik oder fährt einfach nur auf dem Hof Fahrrad.

Ich mache mir Sorgen um ihn. Seine Sprache verschlechtert sich. Anfangs gab es nur einen Stillstand in seiner Entwicklung, jetzt macht er Rückschritte. Deshalb versuche ich ihn so gut es geht selbst zu fördern - zum Beispiel mit den Materialien, die wir von der Förderschule bekommen haben. Leider fällt Steffen das Lernen zu Hause sehr schwer. Mit etwas Glück kann ich ihn dazu überreden, ein paar Zahlen und Buchstaben nachzuschreiben oder etwas auszumalen. Seine Lehrer hätten vermutlich mehr Erfolg. Ich versuche ihn nun stärker in den Alltag einzubinden - beim Rasenmähen oder beim Tischdecken.

Zum Glück geht Steffen seit dieser Woche wenigstens zwei Mal pro Woche in die Notfallbetreuung - von 8 bis 13 Uhr und ohne Mittagessen. An diesen Tagen muss er immerhin nicht in den LKW steigen.

Wie gut das auf Dauer klappt, kann ich nicht sagen. Schließlich ist diese Ausnahmesituation in der Schule für alle Kinder mit Behinderung nicht leicht. Sie tun sich oft schwer mit Veränderungen. Auch die Hygieneregeln einzuhalten ist für sie nicht einfach. Man muss Steffen regelmäßig ans Händewaschen und Abstandhalten erinnern. Maske zu tragen, haben wir zu Hause oder beim Einkaufen geübt. Das klappt schon einigermaßen gut.

Eine große Herausforderung steht uns noch bevor, und zwar die Sommerferien. Normalerweise würde Steffen zwei Wochen lang eine Ferienfreizeit der örtlichen Lebenshilfe besuchen. Ob die stattfinden kann, steht nicht fest. Im Zweifel müssen wir unseren restlichen Jahresurlaub getrennt nehmen, um die Betreuung zu sichern.

*Name geändert

Original